Herr Borener liebt Lotte. «Ein göttliches Feuer strömt in meinen Adern, reißt mich hin, wirft mich zu den Füßen meiner Göttin nieder.» So umschwärmt Borener seine Angebetete 1715 – es ist das älteste Schreiben im Liebesbrief-Archiv Koblenz-Darmstadt.
25.000 Briefe, Mails und Kurznachrichten aus 52 Ländern und vier Jahrhunderten: Die Sammlung ist nach Angaben der verantwortlichen Sprachwissenschaftler «deutschlandweit das einzige Archiv seiner Art». 1997 hat es Eva Lia Wyss mit Zeitungsaufrufen zur Einsendung von Briefen gegründet. Nun feiert es sein 25-jähriges Bestehen mit einer «Langen Nacht der Liebesbriefe» in Koblenz.
Texte werden kürzer und Bilder wichtiger
Im Handy-Zeitalter erfolgt die Liebesbekundung meist digital. Oder sie wird auf Zettelchen zu Hause geschrieben. Auch das interessiert die Sprachwissenschaftler in Koblenz und Darmstadt. «Es gibt Paare mit einer Art offenem Kanal», sagt die gebürtige Schweizerin Wyss, die an der Uni Koblenz-Landau lehrt. «Sie schreiben sich tagsüber alle drei Stunden oder sogar jede halbe Stunde.» Die Texte werden kürzer und Bilder wichtiger: Fotos und Emojis (Bildsymbole) zeigen die Gefühle.
Die traditionellen Liebesbriefe sind laut Professor Wyss dennoch nicht ausgestorben: «Zu besonderen Anlässen wie Geburtstagen und Hochzeitstagen schreiben Leute noch Briefe mit der Hand, auch auf Büttenpapier und schön dekoriert.» Die Kalligrafie, also die Kunst der schönen Handschrift, «ist wieder ein Trend».
«Schatz» oder «Schatzi» ist nach früheren Angaben der Darmstädter Linguistik-Professorin Andrea Rapp der häufigste Kosename in Liebesbriefen – schon seit dem 19. Jahrhundert. Ihre Kollegin Wyss sagt, Verniedlichungen wie Engelein und Prinzesschen seien ebenfalls beliebt. Je nach Beziehung würden Kosenamen auch weniger romantisch und leidenschaftlich als vielmehr scherzhaft und originell gewählt.
Untierchen, Königskind oder unendlich umarmtes Miststückchen
Und im Wandel der Zeit ändern sie sich. Wyss nennt Beispiele: «Theuerste Innigstgeliebteste» im 19. Jahrhundert und «Firlefanz» in den 1920er Jahren. In einer Korrespondenz der 1990er Jahre heißt es: «Froschmäulchen, Untierchen, Tierchen, Königskind, Untier, unendlich umarmtes Miststückchen.»
Die Hüterin des Liebesbriefarchivs erläutert: «Wir erforschen Alltagskultur.» Liebesbriefe seien ein kultureller Schatz, der oft jahrzehntelang auf Dachböden und in Kartons schlummere. Bei Haushaltsauflösungen «sehen dann viele unser Archiv als tolle Möglichkeit, nicht alles wegzuwerfen, und schicken uns die alten Liebesbriefe von Eltern und Großeltern», sagt die Professorin.
Namen würden gegebenenfalls anonymisiert. Etwa wenn diese private Post bei den neuen Liebesbrief-Stammtischen in Koblenz und Darmstadt beim bürgerwissenschaftlichen Projekt «Gruß & Kuss» besprochen werde. Dieses laufe von 2021 bis 2024, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit insgesamt rund einer halben Million Euro. Menschen können sich an der Analyse von Liebesbriefen beteiligen.
Projektkoordinatorin Lena Dunkelmann sagt: «Beim ersten Stammtisch haben wir uns Kosenamen angeschaut. Beim zweiten Stammtisch am 14. September parallel in Koblenz und Darmstadt geht es um Liebesbriefe in Kurrent.» Das ist eine historische Schreibschrift.
Workshops, Vorträge und Sprechstunden
Laut Dunkelmann gibt es auch online Workshops und Sprechstunden für Menschen, die sich über die wissenschaftliche Aufbereitung und Analyse von Liebesbriefen informieren wollen. Wyss erklärt: «Wir wollen die Kluft zwischen den Universitäten und der Bevölkerung verkleinern. Wir haben sogar schon Vorträge über Liebesbriefe auf Marktplätzen gehalten.»
Mehr als 60 Menschen unterstützen gegenwärtig die Wissenschaftler des Archivs, dessen Briefe in der Unibibliothek Koblenz liegen. Digitalisiert und zugänglich gemacht werden sie in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Darmstadt.
Auch ungewöhnliche Liebesbriefe
Wyss fallen auch ungewöhnliche Liebesbriefe ein. Etwa adressiert an Haustiere: «Die sind für viele ja ein Familienmitglied.» Oder traurige Briefe als Abschied vor dem Tod. «Oder Briefe voller Leidenschaft, die aber nie abgeschickt worden sind.» Oder Briefe heimlicher Liebschaften. Ein Paar, dessen Eltern gegen die Verbindung waren, schrieb sich in den 1950er Jahren geheime, als musikalische Noten verschlüsselte Botschaften.
Sprachwissenschaftlerin Wyss berichtet zudem von einer Frau, die in den 1920er Jahren Liebesbriefe von 17 verschiedenen Herren bekommen habe, auch parallel: «Sie hat das Leben ausgekostet.» Das sei auch ein Ausdruck jener Zeit mit gesellschaftlichen Befreiungen vor der dunklen NS-Epoche gewesen.
Stammtisch-Koordinatorin Dunkelmann sagt: «Liebesbriefe sind ein schönes Thema, mit dem die meisten Menschen Berührungspunkte haben. Wir freuen uns über das große Interesse.» Die «Lange Nacht der Liebesbriefe» mit kurzen Vorträgen am 24. September in Koblenz sei mit 80 Anmeldungen längst ausgebucht: «Wir haben eine Warteliste.»
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