Weihnachten ist eine Art Zeitmaschine: ein Familienfest, an dem man die Familienchronik noch einmal aufschlägt – auch kulinarisch. «Bei uns gibt es jedes Jahr dasselbe an Weihnachten – nämlich Schäufele mit Kartoffelsalat, ganz einfach», sagt Landwirtin Monika Schnaiter aus Oberhamersbach im Schwarzwald.
«Aber am ersten Weihnachtsfeiertag geht’s in die Vollen, dann wird richtig festlich gekocht: Fleischbrühe mit Klößchen als Vorspeise und danach Reh mit Rotkraut und Prinzesskartoffeln.»
Tradition siegt an Weihnachten
So wie Monika Schnaiter im Schwarzwald halten es viele zu Weihnachten. Sie setzen beim Essen auf Traditionen. Es werden Gerichte gekocht, die an frühere Zeiten erinnern. So kommen einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr zufolge am 24. Dezember bei knapp einem Fünftel Würstchen mit Kartoffelsalat (19 Prozent) auf den Tisch, knapp gefolgt von Fondue und Raclette (17 Prozent). Bei etwa jedem Zehnten gibt es Braten (Rind oder Schwein, 9 Prozent), bei jeweils 8 Prozent wird Fisch oder Geflügel serviert, bei 4 Prozent Wild. Experimente in der Küche – zum Beispiel mit veganen (2 Prozent) oder vegetarischen (5 Prozent) Gerichten – sind an Heiligabend selten, wie die Forsa-Umfrage im Auftrag des Deutschen Lebensmittelverbands ergab.
Häufig werden die Rezepte von Generation zu Generation innerhalb der Familie weitergegeben. So auch in der Familie von Schnaiter, die seit 1995 Mitglied des Landfrauenverbands Südbaden ist. «Die Rezepte geben bei uns die Mütter an die Töchter weiter. Auch ich habe Wildkochen von meiner Mutter gelernt und gebe das an meine drei Kinder weiter, diese überlieferten Dinge», sagt die 54-Jährige.
Traditionen an der Weihnachtstafel haben eine lange Geschichte, sie gehen vor allem auf christliche Riten zurück, haben aber auch eine Funktion inne, sagt der Kulturwissenschaftler und Kulinarik-Experte Peter Peter aus München. «Es findet ja in den wenigsten Familien im Alltag noch eine traditionelle deutsche Küche statt – anders an Weihnachten. Die Food-Blogs sind voll mit klassischen Gerichten in dieser Zeit. Man zoomt sich zu Weihnachten künstlich in altmodische Zeiten zurück», erklärt Peter. So sei Weihnachten «eine kulinarische Zeitmaschine, denn gerade an diesen Tagen gibt es oft den Wunsch, Gerichte der Kindheit zu wiederholen.» Man schaue sich alte Fotos an, schwelge zusammen in Erinnerungen.
Ventilsituation und Erlebnisgesellschaft ohne Erlebnisse
Aber es gibt noch mehr Gründe, warum das Essen an Weihnachten eine so große Bedeutung hat. «Essen ist das große Leitnarrativ unserer Gesellschaft geworden, es stiftet Identität in einer Welt, die sich immer schwieriger erklären lässt», erklärt der Kulturantrophologe Prof. Gunther Hirschfelder von der Universität Regensburg. Das sei ein Grund, darüber hinaus solle es auch immer was Besonderes sein. «Wir befinden uns an Weihnachten in einer Sondersituation, in einer Ventilsituation. Viele essen in diesen Tagen Dinge, die sie sonst nicht essen, aber an Weihnachten werden dann die großen Ausnahmen gemacht, man gönnt sich was.»
Die Pandemie habe diese Entwicklung gefördert, sagt Hirschfelder. «Wir sind eine Erlebnisgesellschaft mit wenig Erlebnissen. Durch die coronabedingt wegfallenden Möglichkeiten, Geld auszugeben, wird die Bereitschaft, mehr fürs Essen zu bezahlen, geboostert», glaubt er. Exotik sei dabei jedoch nicht gefragt, sondern eben die Klassiker auf dem Teller. «Traditionelle Gerichte an Weihnachten sind emotionale Ankerwürfe – man sucht vermeintlich Vertrautes. Wir suchen Sicherheit in der Vergangenheit, in der alles Alte zum Wertvollen gerät. «Alle Jahre wieder» ist heute ein Versprechen, dass es wieder zurück zur guten alten Normalität kommt. Wir haben eine Sehnsucht nach dem Früher – und diese traditionellen Gerichte markieren das», führt der Wissenschaftler weiter aus.
Die Geschichte der Gerichte
Aber warum essen wir eigentlich das, was wir essen? Was ist die Geschichte der Gerichte an Weihnachten? «Würstchen mit Kartoffelsalat ist ein Gericht, das ursprünglich aus dem katholischen Fastenverständnis kommt. Es ist ein einfaches und günstiges Essen, das nicht viel Arbeit macht und leichter ist als der Gänsebraten, wenn man zu später Stunde aus der Christmette kommt», so Peter. Gleiches gelte für den Karpfen auf dem Teller an Heiligabend. Denn schließlich ende die Fastenzeit erst in der letzten Stunde des 24. Dezembers und die Fastenzeit lasse Fisch zu, aber kein Fleisch.
Fondue und Raclette seien hingegen «ein Kind der 68er-Generation», so der Experte für Kulinarik. «Es geht zurück auf die Entwicklung des Skitourismus. Bis in die frühen 60er-Jahre kam man in schicken Grand Hotels unter. Dann tauchten die urigen Skihütten auf, die Chalets, wo das kernige Fondue aufgetischt wurde. Es ist ein praktisches Essen, das nicht großartig vorbereitet werden muss und die Hausfrau entlastet.» Jeder bereite sein Essen praktisch selbst zu, es fördere Tischgespräche. Durch die Tatsache, dass alle aus einem Topf essen, ist es in den Augen des Kulturwissenschaftlers Peter ein geradezu demokratisches Gericht, das den Geist der Sixties widerspiegele.
Schäufele und Gemüsebratling
Aber Weihnachtsküche ist auch immer Jahreszeitenküche – auch das zeigt sich in den traditionellen Gerichten. Das weiß auch Landfrau Monika Schnaiter. «Wir haben hier im Schwarzwald noch lange selbst geschlachtet und daher auch die Brühe aus den Knochen gekocht. Früher hat es ja keinen Salat im Winter gegeben, aber dafür Kohl – in allen Variationen.» Und Kohl wird bei der Familie jedes Jahr an Weihnachten zum Wild gereicht.
Aber wenn eine der Töchter zu Weihnachten kommt, die sich vegetarisch ernährt, zeigt sich Familie Schnaiter – zumindest an Heiligabend – kulinarisch flexibel. Da gibt es statt dem Schäufele mit Kartoffelsalat auch mal einen Gemüsebratling. «Das essen dann auch alle mit», sagt Monika Schnaiter. Doch am ersten Weihnachtsfeiertag kommt dann doch wieder der Rehbraten auf den Tisch. Da bleiben die Schnaiters der Weihnachtstradition treu.
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