Thrombosen bei Frauen, Herzmuskelschwäche bei Jugendlichen: Seit einem Jahr verunsichern Berichte über mögliche Nebenwirkungen der Corona-Impfstoffe viele Menschen.
Am 27. Dezember 2020 startete offiziell die Impfkampagne. Weil die Zahl der Geimpften anfangs gering war, war es zunächst schwierig, solche Berichte einzuordnen. Inzwischen sind Millionen Menschen immunisiert: Zeit für eine Bilanz.
Großer Nutzen, geringe Risiken
Die Impfungen hätten nicht nur Krankenhauseinweisungen und Todesfälle verhindert, sondern auch wieder einen großen Teil des sozialen Lebens ermöglicht, schreiben US-Autoren im Fachblatt «Jama». Damit Menschen den Impfstoffen vertrauten, sei es wichtig, «den großen Nutzen und die geringen Risiken» klar zu kommunizieren, aber auch die Sicherheit der Impfstoffe zu überwachen, betonen die Experten der Gesundheitsbehörde CDC.
Deutschland habe «von Beginn an die Verdachtsfallmeldungen zu Impfstoffnebenwirkungen und -komplikationen mit höchster Priorität beobachtet, auch sehr seltene Nebenwirkungen frühzeitig erkannt und Maßnahmen zur Risikominimierung eingeleitet», schreiben die Chefs vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) und des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Klaus Cichutek und Karl Broich, in ihrer Bilanz ein Jahr nach Start der Impfungen.
Häufigste Reaktionen klingen schnell wieder ab
Typische Beschwerden nach einer Impfung sind laut Deutscher Gesellschaft für Immunologie (DGfI) Schmerzen an der Einstichstelle, Abgeschlagenheit und Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Schüttelfrost und Fieber. «Diese Reaktionen sind Ausdruck der erwünschten Auseinandersetzung des Immunsystems mit dem Impfstoff und klingen in der Regel nach wenigen Tagen komplett ab», schreibt das Robert Koch-Institut (RKI).
Das für die Sicherheit von Impfstoffen zuständige PEI veröffentlicht regelmäßig sogenannte Sicherheitsberichte zu den Covid-19-Vakzinen. Der jüngste stammt vom 23. Dezember und bezieht sich auf über 123 Millionen Impfungen, die bundesweit bis Ende November verabreicht wurden. Gemeldet wurden bis dahin 1,6 Verdachtsfälle pro 1000 Dosen – das entspricht 0,16 Prozent. Betrachtet man nur die schwerwiegenden Reaktionen, liegt die Melderate bei 0,2 Verdachtsfällen pro 1000 Impfdosen – 0,02 Prozent.
Als «schwerwiegend» definiert das Arzneimittelgesetz Nebenwirkungen, die tödlich oder lebensbedrohend sind, eine stationäre Behandlung erfordern oder zu bleibenden Schäden führen. Schwerwiegende Nebenwirkungen sind laut Infektionsschutzgesetz meldepflichtig, wenn sie «über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehen».
Als «sehr seltene Risiken der Covid-19-Impfstoffe» listet der jüngste PEI-Sicherheitsbericht auf: Allergien (Anaphylaktische Reaktionen), Herzmuskelentzündung (Myokarditis) und Herzbeutelentzündung (Perikarditis), die Nervenentzündung Guillain-Barré-Syndrom sowie Blutgerinnsel (Thrombose-mit-Thrombozytopenie-Syndrom, TTS).
Was weiß man bisher darüber?
Generell verweist das PEI darauf, «dass unerwünschte Reaktionen im zeitlichen, nicht aber unbedingt im ursächlichen Zusammenhang mit einer Impfung gemeldet werden. Ob eine Reaktion tatsächlich eine Folge der Impfung ist, könnten nur Studien beweisen. Das PEI arbeitet mit Wahrscheinlichkeiten: Es vergleicht, wie häufig eine unerwünschte Reaktion gemeldet wird, und setzt das in Relation dazu, wie häufig dies statistisch in einer vergleichbaren ungeimpften Bevölkerung vorkommt. «Nach derzeitigem Kenntnisstand sind schwerwiegende Nebenwirkungen sehr selten und ändern nicht das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis der Impfstoffe», betont der jüngste Sicherheitsbericht.
Herzmuskelentzündungen:
«Myokarditis ist eine relevante Nebenwirkung», sagt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Herzstiftung, Thomas Voigtländer. Das dürfe aber kein Grund sein, sich gegen eine Covid-19-Impfung zu entscheiden: «Wer sich nicht gegen Covid-19 impfen lässt, geht ein weit höheres Risiko durch die Gefahren eines schweren Covid-19-Krankheitsverlaufs ein.»
Myokarditis oder Perikarditis als Impfreaktionen seien sehr selten. «Wir sprechen hier von knapp fünf Fällen bezogen auf 100 000 Impfungen.» Sie verliefen zudem in der Regel mild und heilten in nahezu allen Fällen aus. Die Verdachtsmeldungen betrafen hauptsächlich die beiden mRNA-Impfstoffe und überwiegend männliche Jugendliche. Dem Sicherheitsbericht zufolge wurden 15 Todesfälle im zeitlichen Zusammenhang mit der Covid-19-Impfung genannt. In drei davon hält das PEI einen ursächlichen Zusammenhang für möglich, in den anderen Fällen geht die Behörde «auf Basis der derzeitigen Datenlage» nicht davon aus.
Thrombosen:
Im Frühjahr sorgten Berichte über sehr seltene Thrombosen für Aufregung – das Thrombose-mit-Thrombozytopenie-Syndrom (TTS). Diese Blutgerinnsel treten oft an ungewöhnlichen Stellen auf, etwa im Gehirn, Betroffene haben gleichzeitig eine verminderte Anzahl von Blutplättchen. «Diese Erkrankung ist eine seltene, aber potenziell gefährliche Nebenwirkung von vektorbasierten Sars-CoV-2-Impfstoffen», betont die Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH).
Die Meldungen betrafen überwiegend die Vektorimpfstoffe von Astrazeneca und Johnson & Johnson. Frauen waren überdurchschnittlich oft betroffen. Laut Sicherheitsbericht wurden 43 Todesfälle durch TTS mit den Impfungen in einen Zusammenhang gebracht. 29 davon erfüllen laut PEI die speziellen Kriterien für eine TTS: Sie betreffen demnach die Präparate von Astrazeneca und Johnson & Johnson. Astrazeneca wird in Deutschland nicht mehr verwendet, Johnson & Johnson spielt eine untergeordnete Rolle.
Allergische Reaktionen:
Anaphylaktische Reaktionen traten bei allen vier zugelassenen Impfstoffen auf, allerdings waren auch sie sehr selten. Die Melderate betrug bis Ende November weniger als ein Fall pro 100.000 Impfdosen. Sie ist bei Frauen etwas höher als bei Männern und bei der ersten Impfdosis höher als bei den Folgeimpfungen.
Nervenschäden:
Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist eine sehr seltene Autoimmunerkrankung des Nervensystems. Die Melderate nach einer Impfung mit einem der beiden Vektorimpfstoffe lag laut Sicherheitsbericht niedriger als eine Meldung pro 100.000 Impfdosen.
Was ist mit Langzeitfolgen?
«Es gibt zwei Möglichkeiten, was unter dem Begriff «Langzeitfolgen» zu verstehen ist», schreibt das PEI. «Etwas, das erst nach langer Zeit eintritt, oder etwas, das über einen langen Zeitraum anhält.» Dass sehr seltene Impfkomplikationen über einen langen Zeitraum andauerten, sei «die absolute Ausnahme», schreibt die Behörde.
«Besorgte Bürgerinnen und Bürger verstehen unter Langzeitfolgen – häufig auch Spätfolgen genannt – Nebenwirkungen, die erst mit einer Verzögerung von vielen Monaten oder Jahren nach der Impfung auftreten», heißt es weiter. «Diese Sorgen sind unberechtigt. Wir kennen solche sehr spät einsetzenden Nebenwirkungen von Impfstoffen nicht.»
Und wie viele «Impftote» gibt es nun?
Dem jüngsten Sicherheitsbericht zufolge wurde 1919 Mal der Verdacht auf einen Todesfall nach einer Impfung gemeldet. Aber nur in 78 Einzelfällen hat das PEI «den ursächlichen Zusammenhang mit der Impfung als möglich oder wahrscheinlich bewertet». Ein Vergleich der Anzahl der gemeldeten Todesfälle mit der statistisch zu erwartenden Zahl der Todesfälle im gleichen Zeitraum «ergab für keinen der vier bisher in Deutschland eingesetzten Covid-19-Impfstoffe ein Risikosignal», schreibt das PEI.
Was sind eigentlich Nebenwirkungen?
Unter Nebenwirkung versteht man eine Wirkung, die neben der beabsichtigten Hauptwirkung eines Arzneimittels auftritt. Alternativ werden auch die Begriffe «unerwünschte Reaktion» und «Komplikation» verwendet.
Nebenwirkungen von Arzneimitteln oder Impfstoffen werden im Beipackzettel, den Fachinformationen für Ärzte und den Produktinformationen des Herstellers aufgelistet. Dafür muss ein ursächlicher Zusammenhang bekannt oder zumindest plausibel sein.
«Unvorhergesehene Nebenwirkungen» sind Reaktionen, die zuvor noch nicht beobachtet wurden und noch nicht in den Fachinformationen beschrieben sind.
«Schwerwiegende Nebenwirkungen» sind Reaktionen, die tödlich oder lebensbedrohend sind, eine stationäre Behandlung erforderlich machen oder zu bleibenden oder schwerwiegenden Schäden führen.
«Seltene Nebenwirkungen» sieht man erst, wenn sehr viele Menschen das Produkt bekommen haben. Die Zahl der Menschen, die an Phase-3-Studien eines neuen Präparats teilnehmen, ist vielfach zu klein, um Nebenwirkungen zu sehen, die zum Beispiel einmal pro eine Million Menschen auftreten. Über die Schwere der Nebenwirkungen sagt der Begriff nichts aus. Er reicht von harmlosen Begleiterscheinungen wie Müdigkeit bis hin zu Risiken, deren Schaden den Nutzen des Medikamentes übersteigt.
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