Zerstörte Wohngebäude, Verzweiflung, Tod und Flucht: Die Bilder, die derzeit aus der Ukraine um die Welt gehen, machen das Herz schwer. Und sie wecken mitunter schmerzhafte Erinnerungen. Denn viele ältere Menschen in Deutschland haben in ihrer Kindheit und Jugend selbst Krieg erlebt.
Die psychologische Psychotherapeutin Julia Michel aus Berlin arbeitet mit älteren Menschen. Im Interview verrät sie, wie ein Umgang mit der Kriegsangst aussehen kann – und an welchem Punkt es ratsam ist, sich psychologische Hilfe zu suchen.
Was kann der Ukraine-Krieg für das psychische Wohlbefinden älterer Menschen bedeuten?
Das ist sehr unterschiedlich, wie ich derzeit auch bei meinen Patientinnen und Patienten sehe. Einige sind beunruhigt und verunsichert, einige verärgert oder aufgebracht. Andere hingegen sind eher unbeteiligt und gehen weiter ihrem Alltag nach. Diese unterschiedlichen Reaktionen sind einfach ein Teil der menschlichen Individualität.
Menschen, die selbst Krieg und die damit verbundene Lebensgefahr erlebt haben, haben es mit all den Bildern in diesen Tagen womöglich schwierig. Das muss aber nicht bei allen so sein.
Das Gehirn stellt dann fest: Es gibt Ähnlichkeiten zwischen den aktuellen Bildern aus der Ukraine und den Erlebnissen, die im Gedächtnis abgelegt sind. In der Folge aktiviert das Gehirn die Gedanken und Gefühle, die mit der Erinnerung verbunden sind.
Wer traumatische Erinnerungen an Krieg hat, erlebt womöglich, dass er seine Reaktion auf die Bilder aus der Ukraine kaum kontrollieren oder steuern kann. Wenn sich solche intensiven Erinnerungserlebnisse häufen und den Alltag beeinträchtigen, sollten die Betroffenen darüber nachdenken, sich psychologische Hilfe zu holen.
Abgesehen von professioneller Hilfe: Was kann älteren Leuten noch helfen, einen Umgang mit der aktuellen Situation zu finden?
Ich finde wichtig, unangenehme Gefühle wie Angst und auch die damit verbundene körperliche Reaktion als etwas Normales anzusehen. Es ist logisch, dass die Kriegsbilder Angst ins uns auslösen – ob wir nun älter oder jünger sind.
Hilfreich kann dann sein, sich darauf zu besinnen, was man alles schon bewältigt hat. Gerade ältere Menschen haben dabei einen großen Schatz: Sie haben schwierige Situationen erlebt und sind kompetent darin, mit Belastungen umgehen.
Wer mag, kann sich selbst rational hinterfragen. Was bedeutet die Situation in der Ukraine für mich? Ist es gerade wirklich so gefährlich, wie mir das Gefühl suggeriert? So bekommt man etwas Distanz zu den intensiven Gefühlen.
Und natürlich kann Austausch helfen – mit Gleichgesinnten, aber vielleicht auch mit anders gestrickten Menschen, die weniger Ängste haben. So bekommt man eine Idee davon, wie man die Lage noch sehen könnte. Regelmäßige Sozialkontakte tun gut – ob am Telefon, per Brief oder auch im persönlichen Treffen.
Stehen solche Kontakte nicht zur Verfügung, kann man auch psychosoziale Angebote wie zum Beispiel das Kontakttelefon Silbernetz in Anspruch nehmen. Ich lade dazu ein, solche Angebote wirklich zu nutzen – und nicht zu denken, man bräuchte das nicht oder hätte es nicht verdient.
Wenn ältere Menschen möchten, können sie auch im Vertrauen über die eigenen belastenden Ereignisse sprechen. Genauso richtig kann es aber auch sein, solche Gespräche lieber zu vermeiden. Ich glaube da sehr an die Weisheit des einzelnen Menschen, der gut weiß, was er oder sie braucht.
Was kann älteren Leuten mit Kriegsängsten denn bei ihrer Alltagsgestaltung helfen?
Älteren Menschen kann es guttun, im Blick zu behalten, wie sehr sie sich mit dem Krieg beschäftigen. Wenn man dazu neigt, Angst zu bekommen und sich beunruhigen zu lassen, sollte man vielleicht eine Pause von kriegsbezogenen Nachrichten einlegen. Denn fortwährende unangenehme Gefühle sind langfristig nicht gut für unsere Psyche.
Ganz allgemein rate ich zu einem geregelten Alltag, zu Ritualen und festen Strukturen. Diese streicheln unsere Psyche und halten uns im Gleichgewicht. Ich erlebe aber, dass ältere Menschen sowieso schon Meister darin sind, ihren Alltag zu strukturieren. Zuletzt bringt es etwas emotionale Ruhe, sich bewusst auf das Kleine zu besinnen, auf die Dinge im Alltag, die wir kontrollieren können.
Zur Person: Julia Michel ist Psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie. Zudem ist sie Sprecherin des Arbeitskreises «Psychotherapie mit Älteren» der Psychotherapeutenkammer Berlin.
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