Freiheitsentzug, Schläge, Anbrüllen – solche Extrembeispiele sind selten. Meist äußert sich Gewalt in der Pflege subtiler, oft ist Stress ein Auslöser. In einem Pilotprojekt erforschen vier Hochschulen, wo Gewalt anfängt, wie es dazu kommt und was man dagegen tun kann.
Finanziell unterstützt wird das Projekt von der Techniker Krankenkasse. Auch neun Einrichtungen aus Hessen haben teilgenommen. Für ein Folgeprojekt werden weitere Heime gesucht, die sich trauen, hinzuschauen.
«Für uns ist das Thema eine Herzensangelegenheit» sagt Ulli Maria Jefcoat, Projektleiterin «Würde im Alter» im Frankfurter Alten- und Pflegeheim Anlagenring. «Körperliche Gewalt haben wir fast gar nicht», sagt die 64-Jährige. Wobei die Grenze, wo Gewalt anfängt, schon die erste Schwierigkeit darstellt: Ein Patient ist körperlich stark eingeschränkt und daher sehr langsam, eine Pflegerin ist im Stress und stupst ihn an, damit er sich beeilt. «Auch das ist schon Gewalt», sagt Jefcoat.
Verbale Gewalt
«Die häufigste Form der Gewalt ist verbale Gewalt», sagt sie. Dass ein Bewohner mit Demenz gegen Pflegepersonal ausfällig wird, sei seiner Krankheit geschuldet. Umgekehrt ist das nicht tolerabel, das steht außer Frage. Aber was ist mit dem Kollegen, der fluchend durchs Haus geht und andere mit runterzieht? Auch sexualisierte Gewalt komme vor, sagt Jefcoat, etwa bei dementen Männern, die beim Duschen die junge Pflegerin zu intimen Berührungen auffordern.
Zu definieren, wo Gewalt anfängt, das ist der erste Schritt im Projekt Peko, das 2018 losging. Die Abkürzung steht für «Partizipative Entwicklung von Konzepten zur Prävention von Gewalt in der stationären Pflege». Angestoßen haben es die Techniker Krankenkasse und die Universität Lübeck. Im ersten Durchlauf haben bundesweit 53 stationäre Pflegeeinrichtungen teilgenommen – darunter fünf Einrichtungen aus dem Raum Frankfurt und vier aus dem Raum Fulda.
Freiheitsentzug
«Eine ernste Sache» ist laut Jefcoat das Thema Freiheitsentzug. Bei einem Rollstuhlfahrer wird während des Essens die Bremse festgestellt – zu seiner eigenen Sicherheit und sicher in bester Absicht. Aber wenn der Patient die Bremsen nicht selbst lösen kann und dafür nicht sein Einverständnis gegeben hat, «dann ist das Freiheitsentzug», sagt Jefcoat. Auch Bettgitter fallen in diese Kategorie. Eigentlich ist in solchen Fällen die Abgrenzung leichter, denn hier gibt es klare gesetzliche Regeln.
Schwieriger ist es bei Vernachlässigung. Jefcoat schildert einen typischen Fall: Eine Pflegekraft setzt einen Bewohner auf die Toilette. In der Zwischenzeit muss sie bei der Dusche eines anderen Bewohners aushelfen. Der Mann auf der Toilette klingelt, aber sie kann nicht kommen, denn sie kann den zweiten Mann nicht allein lassen. Situationen wie diese diskutieren die Mitarbeiter in regelmäßigen Gewaltpräventions-Workshops. Anhand von Fallbeispielen aus dem Alltag werden – unterstützt von einem Psychologen – gemeinsam Lösungen erarbeitet, um Aggression zu vermeiden.
Zu oft ein Tabu
Bei dem Projekt konnte jede Einrichtung selbst entscheiden, welche Maßnahmen sie ergreifen will. Manche gründeten ein Präventionsteam, andere setzten Vertrauenspersonen ein, organisierten Schulungen oder plakatierten die wichtigsten Regeln auf den Fluren. Bei der Planung und Umsetzung der Maßnahmen wurden die Einrichtungen von Wissenschaftlern aus Lübeck, Köln, Halle und Fulda begleitet.
«Überall, wo Menschen zusammentreffen, kann Gewalt auftreten», sagt Stefanie Freytag von der Hochschule Fulda. Sie könne von den Bewohnern ausgehen, vom Personal, aber auch von Angehörigen. Das Problem in der Pflege: «Das Thema wird zu oft noch tabuisiert.» Zweites Ziel nach der hausinternen Definition, wo Gewalt anfängt, war es, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu sensibilisieren und sie zu ermutigen, «kritische Ereignisse» offen anzusprechen. Dabei zeigte sich: «Es ist einfacher, Vorfälle aus der Beobachter- als aus der Täter-Perspektive anzugeben.»
Ausübung psychischer Gewalt
Damit sich Mitarbeiter trauen, kritische Situationen anzusprechen, müsse im Haus eine Atmosphäre des Vertrauens herrschen. Dann könne man gemeinsam nach Lösungen suchen. Manches habe man natürlich nicht in der Hand, sagt Freytag: Am Personaleinsatz könne man nichts ändern, ebenso wenig wie am Fachkräftemangel. Jefcoat sieht die Heimleitungen dennoch in der Pflicht: «Wir müssen dafür sorgen, dass die Struktur so ist, dass Situationen, in denen es zu Gewalt kommt, vermieden werden.» Der häufigste Auslöser für Gewalt sei Stress. Um den zu reduzieren, gebe es auch andere Wege als mehr Personal, etwa bessere Organisation, klare Zuständigkeiten und gute Planung.
Die Auswertung für den wissenschaftlichen Abschlussbericht zeige, dass durch die partizipative Projektarbeit ein großer Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der teilnehmenden Einrichtungen erreicht werden könne. «Die in der wissenschaftlichen Evaluation gezeigte Gewaltreduktion lässt auf eine positive Wirkung der entwickelten Interventionen und Konzepte, insbesondere auf die Ausübung psychischer Gewalt und Vernachlässigung, schließen.»
Frühzeitig entgegenwirken
Die Ergebnisse flossen in ein Modulhandbuch und in einen Leitfaden ein, die auch andere nutzen können. Und die Arbeit wird fortgesetzt: In einer zweiten Runde sollen bis Ende 2022 in weiteren Pflegeheimen Maßnahmen zur Vermeidung von Gewalt entwickelt werden. 60 weitere Einrichtungen können mitmachen, erst 35 Plätze sind vergeben. Außerdem wird das Gewaltpräventionsprojekt auf die stationäre Pflege im Krankenhaus und in der ambulanten Pflege ausgedehnt.
Auch die Krankenkasse zieht ein positives Fazit. Es gehe darum, Grenzüberschreitungen «frühzeitig und mutig entgegenzuwirken», sagt Barbara Voß, Leiterin der TK-Landesvertretung in Hessen. Innerhalb eines Jahres habe sich der Umgang mit Gewalt in der Pflege verändert. «Wir hoffen, dass durch Peko Gewaltereignisse in der Pflege langfristig vermieden und Pflegekräfte entlastet werden.»
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