Auch drei Jahrzehnte nach der Einheit rücken Ostdeutsche nur sehr mühsam in die Chefetagen vor. Nach einer neuen Studie haben sie selbst in Ostdeutschland aktuell nur gut ein Viertel der Spitzenposten in Politik, Wirtschaft, Justiz oder Universitäten und damit kaum mehr als im Jahr 2016.
Bundesweit liegt der Anteil bei nur 3,5 Prozent. «Das muss sich ändern», sagte der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, am Mittwoch zur Vorstellung der Studie «Der lange Weg nach oben». Eine «Ostquote» will er aber nicht.
Zu wenig Spitzenposten gemessen am Bevölkerungsanteil
Erhoben wurden die Daten von der Gesellschaft Hoferichter & Jacobs in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig und dem MDR. In der Studie gilt als Ostdeutscher, wer in der DDR oder nach der Vereinigung im Osten sozialisiert wurde, also bis zum Erwachsenenalter überwiegend dort gelebt hat. In den fünf ostdeutschen Ländern gelten 87 Prozent der Bewohner als ostdeutsch; bundesweit sind es 17 Prozent. Gemessen an beiden Werten ist ihre Vertretung in Spitzenposten also zu gering.
Ihr Anteil in «Elitepositionen» in Ostdeutschland wuchs seit 2016 nur von 23 auf 26 Prozent. Aufwärts ging es bei Richterinnen und Richtern an obersten Gerichten in Ostdeutschland: Darunter sind inzwischen 22 Prozent Ostdeutsche, im Vergleich zu 13 Prozent 2016. In ostdeutschen Unis haben 17 Prozent der Rektoren oder Präsidenten einen ostdeutschen Hintergrund, etwa gleich viele wie 2016.
In den Landeskabinetten der fünf Länder ist der Anteil Ostdeutscher mit 60 Prozent zwar vergleichsweise hoch – doch waren es 2016 noch 70 Prozent. In der Leitung der 100 größten Unternehmen im Osten sank der Wert von 45 auf 27 Prozent. In den Chefredaktionen der großen Regionalzeitungen im Osten fiel er von 62 Prozent auf 43 Prozent.
Austausch wichtiger Amtsträger nach der Wende
Dass so wenige Ostdeutsche das Sagen haben, wird seit Jahren beklagt. Ausgangspunkt war der große «Elitentransfer» nach der Vereinigung, wie Studienautor Michael Schönherr in Erinnerung rief: In der ehemaligen DDR sollte ein Rechts- und Institutionensystem nach westlichem Modell eingeführt werden und dafür entsandte man Westdeutsche. Wer jung in den Osten ging, sitzt dort womöglich bis heute auf dem Chefsessel.
Doch gibt es weitere Gründe – das machte der aus Thüringen stammende Ostbeauftragte Schneider am eigenen Werdegang fest. Als er selbst vor der Berufswahl stand, hatte seine Mutter nach seinen Worten gerade eine Firma gegründet und wusste nicht, ob sie funktioniert. Also entschied sich Schneider für eine Banklehre statt eines Studiums. Nach Einschätzung von Experten handelten viele so, in einer Umbruchzeit, in der Millionen Menschen ihre Jobs aus DDR-Zeiten verloren hatten: lieber Sicherheit als Macht und ein wackelnder Chefsessel.
Die Personalberaterin Constanze Buchheim verwies zudem auf das «Thomasprinzip» – ein Thomas stellt meist einen Thomas ein, ein Westdeutscher einen Westdeutschen – also jemanden, der ihm ähnlich ist. «Je höher man kommt, desto weniger rational sind diese Prozesse», sagte Buchheim. Vieles funktioniere auf Empfehlung, innerhalb von Netzwerken, also mit «Vitamin B».
«Ostdeutsche systematisch benachteiligt»
Was also tun? Der Leipziger Linken-Abgeordnete Sören Pellmann brachte eine «Ostquote» ins Gespräch. «Ostdeutsche werden beim Thema Führungspositionen in Politik und Gesellschaft systematisch benachteiligt», meinte Pellmann. «Das widerspricht dem Grundgesetz.» In Artikel 36 ist für die obersten Bundesbehörden geregelt, dass «Beamte aus allen Ländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden» seien.
Doch Schneider ist gegen eine Ostquote. Die Schwierigkeit dabei wäre unter anderem, gerichtsfest abzugrenzen, wer ostdeutsch ist. Bekommt ein westdeutsches Paar in Ostdeutschland ostdeutsche Kinder? Oder umgekehrt: Wer in Bochum mit ostdeutschen Eltern aufwächst, ist der dann nicht ostdeutsch sozialisiert?
Schneider hat bis Jahresende ein Konzept angekündigt, wollte dazu aber jetzt noch nichts sagen. Vorerst richtete er einen Appell an die Ostdeutschen, «selbstbewusst zu sein und das auch einzufordern, den Finger zu heben». Da in den nächsten Jahren viele Stellen neu besetzt würden, ergebe sich eine Chance.
Der ostdeutsche FDP-Abgeordnete Hagen Reinhold setzt auf neue Hightechfabriken wie Intel in Magdeburg oder Tesla in Brandenburg. «Diese Firmen schaffen nicht nur Arbeitsplätze, sondern bieten automatisch auch Chancen für Führungspersönlichkeiten aus der Region», meinte Reinhold.
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