Alexander Böhmer, ein junger Mann mit stahlblauen Augen und korrekt sitzender Uniform, hat eine Zahl mitgebracht: 1518.
Er kennt sie ganz genau, denn sie ist nicht nur eine Zahl, sondern eine ganze Geschichte – über einen Sturz ins scheinbar Bodenlose, über Bangen, über einen Kampf und schließlich über eine Rückkehr dorthin, wo es ihm am besten gefällt: in die Luft.
1518 Tage lagen zwischen dem letzten Flug, den Alexander Böhmer mit zwei Beinen machen konnte – und dem ersten, den er mit einer Prothese antrat. Er hat es ausgerechnet. «Die Fliegerei war mein Antrieb, das durchzustehen», sagt er. «Weil ich wusste: Ich will dahin zurück.»
Unscheinbare Knieschmerzen
Der 24-Jährige lebt bei Köln, arbeitet als Flugbegleiter bei der Lufthansa in Frankfurt und hat in jungen Jahren mehr erlebt als manch anderer in seinem ganzen Leben. Wegen eines Tumors – landläufig Knochenkrebs genannt – musste ihm ein Bein amputiert und durch eine Prothese ersetzt werden. Böhmer aber wollte unbedingt zurück in seinen Job – und schaffte es. Seit Oktober fliegt er nun wieder. Seine Geschichte ist eine, die im düsteren Jahr 2022 Mut machen kann.
An einem kalten Dezembermorgen am Frankfurter Flughafen ist Alex, wie ihn Freunde nennen, gut gelaunt, auch wenn es kein ganz einfaches Thema ist, über das zu sprechen ist. Zwei Tage zuvor war er bei einer Nachsorgeuntersuchung – und die Befunde sehen ganz gut aus. Die Krankheit ist nicht zurückgekommen, werden ihm später die Spezialisten bescheinigen. Seinen weiteren Einsätzen in der Kabine steht nichts im Wege. Ende Dezember geht es nach Buenos Aires.
Angefangen habe alles 2018 mit Knieschmerzen, sagt er. Erst habe er das gar nicht ernst genommen. Böhmer dachte, er habe sich irgendwo geprellt, nichts weiter. «Wir haben zu Hause noch gelacht. Weil wir dachten: Wie dusselig ist es, sich an der Knie-Innenseite zu stoßen», erzählt er. Da müsse man ja schon äußerst ungeschickt sein. Etwas Schlimmes erwartete er jedenfalls nicht. Im schlechtesten Fall vielleicht Meniskusschaden. Wie bei einem Fußballer.
«Lieber drei Viertel am Leben als ganz unter der Erde»
Die Schmerzen aber wurden immer schlimmer – und ein guter Arzt war gar nicht so leicht zu finden. Böhmer glaubt, dass ihm die Mediziner damals mitunter unterstellten, nur nicht arbeiten zu wollen. Was absurd sei – er liebe seinen Job. «Mit sieben Jahren habe ich wohl schon zu meiner Mutter gesagt: Ich will mal bei der Lufthansa als Flugbegleiter arbeiten», sagt er.
Im August 2018 folgte schließlich die niederschmetternde Diagnose: In Böhmers Knie befand sich ein Tumor, der die Schmerzen verursachte. «Als die Diagnose kam, war mein erster Gedanke: Das werde ich nicht überleben. Ich muss nun sterben», sagt der 24-Jährige. «Mein schlimmster Gedanke war, dass mich meine Eltern beerdigen müssen.»
Es folgten mehrere Operationen und immer wieder Chemotherapie. Zum Problem wurde allerdings ein künstliches Kniegelenk, das eingesetzt wurde, aber nicht richtig heilte. Die Entzündungswerte waren zu hoch, um die Chemo fortzusetzen. Schließlich stellte sich die Frage: Soll das ganze Bein ab, um weiter gegen den Krebs kämpfen zu können? Böhmer erinnert sich heute noch an den Satz, den seine Mutter damals sagte: «Lieber drei Viertel am Leben als ganz unter der Erde.» Also Amputation. Während all der Zeit stand ein Modell eines Passagierflugzeugs auf seinem Krankenhaus-Nachttisch.
Motivation aus dem Internet
Im August 2019 wurde er schließlich als tumorfrei entlassen. Der Weg zurück in seinen Job, der begann nun aber erst. Wer schon mal versucht hat, bei auch nur leichteren Turbulenzen durch einen Flugzeuggang zu gehen, weiß, wie sehr man dafür seinen Beinen vertrauen muss. «Ich konnte am Anfang nicht mal frei stehen, geschweige denn einen Schritt machen», sagt Alexander Böhmer.
Auf Instagram folgten ihm da schon viele Menschen. Im Krankenhaus hatte Böhmer mit Social Media angefangen. Auch um Menschen zu finden, die Ähnliches durchgemacht hatten. «Ich brauchte jemanden, der mir Mut machte», sagt er. Vor der Amputation habe er zuerst nach dem Hashtag «#amputiert» gesucht. «Ich sah dann eine Mutter, die mit einer Prothese ihr Baby trug. Und ich dachte: Sie hat sicherlich keine Angst zu fallen. Sonst würde sie ihr Baby nicht tragen.»
Außerdem erfuhr er viel Zuspruch. «Wenn du postest, dass du nicht mehr kannst und aufgeben willst – dann posten 100 Leute darunter: Doch, du schaffst das, mach weiter», sagt er. Das motiviere. Und Motivation konnte er gut gebrauchen. «Meine Freunde sind in dieser Zeit ausgezogen, haben ein Studium angefangen oder schon beendet. Und ich habe mich gefragt: Werde ich jemals in meinem Leben alleine kochen können?» Mit viel Training, Fleiß und einer auf seinen Job abgestimmten Physiotherapie machte er dann immense Fortschritte. Bis es tatsächlich hieß: Er kann wieder fliegen.
Heute folgen Alexander Böhmer auf Instagram rund 100.000 Menschen. Er ist nun so eine Art Influencer. «Cancersurvivor» steht unter seinem Profil: Krebsüberlebender. Als er neulich in New York war, wurde er beim Burgeressen sogar erkannt, direkt am Times Square. Die Medien sind aufmerksam geworden. RTL lud ihn zum Jahresrückblick ein.
Wobei er nicht mehr ganz so viel postet wie einst. «Ich merke schon, dass es etwas weniger wird», sagt er. «Ich arbeite nun ja wieder.» Und das ist eine gute Nachricht.
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