25. November 2024

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Fluch oder Segen? Selbstdiagnose via Social Media

Nur einen Swipe entfernt - wer im Netz nach Informationen über mentale Gesundheit sucht, wird schnell fündig. Allerdings ist das oft eine nicht fundierte Auskunft. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Wer sich krank fühlt, geht zum Arzt und der stellt die Diagnose. So der klassische Weg. Doch gerade in den sozialen Medien wie TikTok und Instagram zeigt sich ein neuer Ansatz: die Selbstdiagnose. Menschen berichten darüber, wie sie sich selbst etwa Autismus oder ADHS diagnostiziert haben. Viele sprechen über ihre Symptome und erzählen von ihrer Leidensgeschichte. Und manche ermutigen andere, es ihnen gleichzutun.

Die psychische Gesundheit ist schon lange präsent in den sozialen Medien. Betroffene sprechen in Videos über ihre Erkrankung, darunter auch immer wieder Influencer und Prominente mit großer Reichweite. Aber auch Psychologinnen und Psychotherapeuten posten Inhalte zu ihrem Fachthema. ADHS, Autismus oder Depression – gezieltes Suchen, aber auch zufälliges Swipen fördert schnell entsprechende Beiträge zutage.

Bewusstsein wird geschärft

Umut Özdemir arbeitet als Psychotherapeut in Berlin, ist Buchautor und Dozent – und auf Social Media präsent. Grundsätzlich sieht er viele Vorteile darin, dass psychische Erkrankungen bei jungen Menschen auch durch Social Media enttabuisiert werden.

Manchen falle so überhaupt erst auf, dass sie betroffen seien: «Ich muss ja erst mal mitbekommen, dass es mir gar nicht wie anderen geht. Dass das, was ich für normal gehalten habe, gar nicht üblich ist.» Ohne einen Verdacht würde man gar nicht erst eine Therapiestunde vereinbaren.

Beispiel ADHS, kurz für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Statistiken zeigen laut Özdemir, dass die Zahl von ADHS-Diagnosen steigt. Das habe aber nichts damit zu tun, dass das eine Modeerscheinung sei. Vielmehr habe sich ein Bewusstsein für die Symptome entwickelt. «Jetzt haben Menschen die Möglichkeit, sich zu informieren», sagt der Therapeut. Eben auch über Social Media.

Selbstdiagnosen sind fehleranfällig

Im Alltag als Therapeut beobachtet Özdemir, dass Menschen immer häufiger mit einem Verdacht zu ihm kommen. «Das ist für mich ein guter Hinweis darauf, die richtigen Fragen zu stellen und das nicht wegzubügeln», sagt Özdemir. Er betont aber auch, dass solche Vermutungen noch keine Diagnose seien, diese müssten die Fachleute stellen. Denn Selbstdiagnosen seien fehleranfällig.

«Zum einen sind sie subjektiv. Außerdem fehlt es meist an fachlicher Expertise bezüglich der Differenzialdiagnosen.» Gemeint ist die Diagnose einer anderen Erkrankung, die ähnliche Symptome aufweist. Kritisch sieht der Therapeut es daher, wenn Menschen ohne fachliche Einschätzung nur aufgrund einer Vermutung besondere Rücksicht von anderen erwarten: «Das kann dann im schlimmsten Fall dazu führen, dass sich jemand auf der vermeintlichen Diagnose ausruht.»

Fakt und Meinung oft schwer auseinanderzuhalten

Auch der Generalsekretär der Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Burkhard Rodeck, warnt davor, sich in sozialen Medien über Erkrankungen zu informieren. Instagram & Co. seien als Informationsquelle zwar nicht pauschal zu verurteilen. Aber: «Oft fehlt es in den sozialen Medien an Tiefe der Recherche und zwischen Meinung und Fakten wird kaum unterschieden.» Gerade Jugendlichen fehle es an Erfahrung, den Unterschied zu erkennen.

Gute Informationen, auch für Laien, gebe es stattdessen bei medizinischen Fachgesellschaften, in Leitlinien für Erkrankungen. Özdemir rät ebenfalls, Quellen kritisch zu hinterfragen. «Ganz viele springen auch einfach auf den Mental-Health-Zug auf», sagt er. «Manchmal habe ich den Eindruck, wir leben in einem Land mit 82 Millionen Experten und Expertinnen für die Psyche.»

Burkhard Rodeck sieht noch ein weiteres Problem: «Wir alle informieren uns mit einem Bias.» Sprich: Jeder liest, was er lesen möchte. «Wir sind in unserer Wahrnehmung immer subjektiv», sagt der Arzt. Deshalb sei es gerade bei einer Diagnose wichtig, dass eine möglichst neutrale, fachkundige Person involviert sei. «Für das Gespräch mit einem Arzt oder Therapeuten darf aber natürlich jeder selbst vorher Informationen sammeln.»

Therapieplätze fehlen

Ein großes Problem ist allerdings: Die Zahl von Psychotherapie-Plätzen für Kassenpatienten ist gedeckelt. Gleichzeitig steigt die Nachfrage. Ein Erstgespräch, bei dem eine Verdachtsdiagnose gestellt werden kann, ist laut Özdemir noch vergleichsweise leicht zu bekommen. Auf die eigentliche Behandlung müssten Menschen dann aber meist lange warten.

Sind Kinder und Jugendliche betroffen und ist der Leidensdruck besonders groß, rät Burkhard Rodeck Eltern, mit dem Kinder- und Jugendarzt zu sprechen. Der könne den Prozess oft beschleunigen. Dennoch gebe es nicht genug Behandlungsplätze in Deutschland, kritisieren beide Experten. Dieser Vorwurf wird auch auf Social Media häufig geäußert – und kann als Begründung für eine Selbstdiagnose dienen.

Oft nur bestimmte Gruppen im Fokus

Was außerdem dazu verleitet, sich an Erfahrungsberichte vermeintlicher Leidensgenossen oder -genossinnen im Netz zu halten: Forschung und Diagnostik haben sich bisher oft auf eine bestimmte Personengruppe beschränkt, bestätigt Psychotherapeut Özdemir. Ein typisches Beispiel: ADHS. Lange Zeit gab es vor allem die Vorstellung des hyperaktiven Jungen mit ADHS. Heute weiß man, dass Mädchen mit ADHS andere Auffälligkeiten haben können.

«Ich finde es verständlich, dass Minderheiten einander ernster nehmen, wenn sie sich austauschen», sagt der Therapeut. Aber er ergänzt: «Zum Glück geschieht viel in der Forschung und man ist sich dieser Schwachstelle bewusst.» Und am Ende sei bei einer Selbstdiagnose die Frage, wie es weitergehe. «Wenn man eine Behandlung möchte oder braucht, wird man nicht um eine Diagnostik mit einer Fachperson herumkommen.»

Von Christiane Meister-Mathieu, dpa