Wir alle tragen Prägungen aus der Kindheit in uns, die unser Fühlen und Verhalten als Erwachsene beeinflussen. Traumata aus der Kindheit können besonders prägend sein und auch das Erwachsenenleben schwer machen. Wer sich damit auseinandersetzt, kann aber Heilung finden.
Was versteht man unter einem Kindheitstrauma?
Kindheitstraumata können in Form von aktiven Misshandlungen wie körperlicher und sexueller Gewalt sowie emotionaler Misshandlung auftreten. Ebenso gravierend kann Vernachlässigung sein, die sowohl emotional als auch physisch sein kann, einschließlich der Vernachlässigung medizinischer Bedürfnisse.
Bei einem Trauma, so erklärt Psychotherapeutin und Buchautorin Stefanie Stahl, versagen alle Stressregulationsfunktionen. «In solchen Momenten kann eine Person weder emotional noch physisch mit der Situation umgehen und erfährt einen Zustand vollständiger Hilflosigkeit.» Menschen, die in ihrer Kindheit traumatisiert wurden, leiden oft unter einem fundamentalen Mangel an Sicherheitserfahrungen.
Das liegt auch daran, dass es sich bei Kindheitstraumata selten um einzelne traumatische Erfahrungen handelt: «Wenn ein Kind körperlich misshandelt wird, wird es selten davor wunderbar sensitiv umhegt», sagt Marc Schmid, Leitender Psychologe Forschung an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. «Vielmehr beinhalten diese Traumata häufig mehrere Facetten, die oft über mehrere Jahre hinweg stattfinden.»
Man unterscheidet zwischen einem einzelnen schlimmen Erlebnis, dem sogenannten Monotrauma, und dem Poly-, also Mehrfachtrauma. Ein Mehrfachtrauma umfasst einen längeren Zeitraum. «Es bedeutet, dass wir unnormale, extrem stressige Beziehungen und Bedrohungen irgendwie überstehen und bewältigen müssen, wobei die normalen Bewältigungsstrategien versagen», sagt Stahl.
Ich wurde nicht gehauen und nicht sexuell missbraucht, kann ich dennoch traumatisiert sein?
Zu den sogenannten belastenden Kindheitserlebnissen (Adverse Childhood Experiences, ACE) gehören außer körperlicher Misshandlung, körperlicher Vernachlässigung auch emotionale Vernachlässigung und emotionale Misshandlung. Das bedeutet, auch wenn ein Kind etwa immer gedemütigt, beschimpft oder mit Missachtung gestraft wird, erlebt es ein Trauma.
«Auch anhaltender Streit oder Gewalt in der Familie ist für Kinder nicht zu ertragen und vor allem nicht zu bewältigen, denn es gibt keine gesunden Bewältigungsstrategien», sagt Stefanie Stahl. «Sie müssen mit Gefühlen von extremer Hilflosigkeit und Bedrohung umgehen. Dies geschieht in der Regel, indem sie ihre Gefühle und Bedürfnisse unterdrücken, ihre Antennen völlig auf die Außenwelt richten und sich überanpassen.»
Woran merkt man, dass die Trauma-Folgen einen beeinträchtigen?
«Traumatische Erfahrungen können sich im Erwachsenenalter bemerkbar machen, wenn man feststellt, dass man in bestimmten Situationen immer wieder auf alte Verhaltensmuster zurückgreift», erklärt Stefanie Stahl weiter.
«Diese Muster, die in der Vergangenheit nützliche Strategien darstellten, sind in der Gegenwart, wo die traumatische Situation nicht mehr besteht, oft dysfunktional.» Und sie seien ein Hinweis darauf, dass das Gehirn nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden könne, so die Expertin. «Durch die Prägung aus der Kindheit ist es dann quasi umgekehrt: Man hat eine unnormale und unpassende Bewältigungsstrategie für eine normale Situation.»
Belastende Kindheitserlebnisse können auch Folgen auf körperlicher, sozialer und psychischer Ebene, etwa in Form psychischer Störungen und Erkrankungen haben.
Wie wirkt sich ein Kindheitstrauma auf das spätere Leben aus?
«Das Vertrauen in andere Menschen, die Bindungsfähigkeit, eine Selbstwirksamkeit und eine Fähigkeit, sich wirkungsvoll mit der Umwelt auseinanderzusetzen leiden am stärksten unter einer Traumatisierung», sagt Marc Schmid, Vorstandsmitglied der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT). «Kernproblem sind Schwierigkeiten in der Emotions-, Selbstwert- und Beziehungsregulation.»
«Traumata wirken sich dosisabhängig aus; je schwerer und länger die Traumatisierung andauert, desto tiefgreifender sind die Auswirkungen auf das spätere Leben», so Stefanie Stahl. Sie nennt ein Beispiel: Wenn jemand etwa in seiner Kindheit und Jugend immer wieder durch ein Elternteil gedemütigt und sinnlos beschämt wurde, entwickelt er eine übermäßige Angst vor Fehlern und Ablehnung. «Das kann zu extremem Perfektionismus im Erwachsenenalter führen – und einen enormen Leidensdruck bedeuten.»
Was kann man selbst gegen Kindheitstraumata tun?
Ein wichtiger erster Schritt ist das Erkennen und Akzeptieren des Traumas als Teil der eigenen Lebensgeschichte. «Traumatisierte sind oft abgespalten von ihren Gefühlen, weil es zum Zeitpunkt des Traumas ein sinnvoller Überlebensmechanismus war, einfach gar nichts mehr zu fühlen», sagt Stahl.
Doch sie können selbst versuchen, Zugang zu ihren Emotionen zu finden: «Viele Menschen sind sich nicht bewusst, wie viel sie selbst zur Heilung beitragen können, indem sie sich die richtigen Fragen stellen», erklärt die Psychologin. «Wenn man etwas verändern möchte, sollte man sich grundsätzlich fragen: Was hat mich geprägt? Und wo verfalle ich immer wieder in Verhaltensweisen oder auch emotionale Zustände, die der äußeren Situation im Hier und Jetzt gar nicht angemessen sind?»
Das gehe auch in Selbsthilfe mit seriösen Leitfäden und Ratgebern, in manchen Fällen ist aber professionelle Hilfe, etwa in Form einer Psychotherapie, hilfreich oder auch nötig, um das Erlebte aufzuarbeiten und gesunde Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
Kindeheitstrauma: Welche Behandlungsmethoden für gibt es?
Therapeutische Ansätze wie die Traumafokussierte Kognitive Verhaltenstherapie (TF-KVT), die EMDR-Therapie (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) oder auch die Schematherapie gelten als effektiv bei der Behandlung von Traumata. Sie helfen, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und die damit verbundenen Emotionen und Verhaltensmuster zu verändern.
Die Behandlung von Kindheitstraumata umfasst mehrere Phasen, erklärt Marc Schmid, darunter die Vorbereitungsphase mit Psychoedukation, Stabilisierung und Distanzierung, eine Exposition und eine Phase von Integration, Neubeginn und Rückfallprophylaxe. Ziel ist es, Betroffenen zu helfen, das Trauma zu verarbeiten und eine neue Perspektive auf die Ereignisse zu entwickeln.
Gerade im Internet und auf Social Media gibt es wahnsinnig viele Angebote für die Behandlung von Traumata. Wie finde ich ein Seriöses?
Wichtig ist, dass die Therapeutin oder der Therapeut eine Approbation hat. Also etwa ein psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut oder ein ärztlicher Psychotherapeut oder ein (Kinder- und Jugend-)Psychiater, so Schmid. Dann sollte man auch schauen, ob der- oder diejenige eine evidenzbasierte Traumatherapie durchführen kann. Auf der DeGPT-Homepage kann man über die Therapeuten-Suche unter 3 000 Therapeuten mit DeGPT-Zertifikat jemanden in der eigenen Region finden.
Grundsätzlich sollte man darauf achten, dass Verfahren, deren Wirkung in wissenschaftlichen Studien erwiesen ist, angewendet werden. Dies sind verhaltenstherapeutische Methoden und EMDR. Therapeut oder Therapeutin sollten sagen können, mit welchen Methoden der Traumatherapie gearbeitet wird.
Das klingt sehr anstrengend und langwierig. Lohnt es sich wirklich, sich damit zu befassen?
Ja, eine evidenzbasierte Traumatherapie kann eine ziemlich anstrengend sein, wie Marc Schmid sagt. «Aber auch extrem wirkungsvoll. Eigentlich ist ein halbes Jahr und eine normale Kassenpsychotherapie durchaus ausreichend für die Behandlung eines Traumas oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung.»
Es gebe aber natürlich auch Menschen, die sehr komplex erkrankt sind und die darüber hinaus noch konkrete Unterstützung und eine längerfristige Begleitung brauchen.
«Die Auseinandersetzung mit dem Trauma und den eigenen Prägungen kann eine Investition in die eigene psychische Gesundheit sein», sagt Stefanie Stahl. «Da sollte man sich die Frage stellen, ob man sich einmal intensiv damit auseinandersetzt, um dann einen Abschluss zu finden, oder ob man zulässt, dass alte Muster dauerhaft im Hintergrund wirken, einen beherrschen und das eigene Verhalten steuern.»
Zumal Betroffene nicht nur selbst darunter leiden, dass sie sich in bestimmten Situationen nicht angemessen verhalten, sondern auch andere in ihrem Umfeld damit belasten können.
«Heilung ist möglich und spürbar, wenn man in bestimmten Situationen immer seltener getriggert wird und alte Reaktionsmuster nicht mehr automatisiert ablaufen, sondern man neue und gesündere Bewältigungsstrategien erlernt.» Je öfter man sich auf diese Weise als selbstwirksam erlebt, desto stärker entwickelt man ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle – und das ist in jeder Lebensphase wichtig.
Mehr Nachrichten
Rodel, Ski, Helm: Gut ausgerüstet ins Wintervergnügen
Zusammen am Tisch: Wie gemeinsames Essen die Seele stärkt
Rodel, Ski, Helm: Gut ausgerüstet ins Wintervergnügen