Manchmal macht man sich monatelang keine Gedanken darüber. Und ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, denkt man auf einmal: «Sie werden alt!»
Da muss die Mutter nicht erst mit Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus gekommen sein. Oder beim Vater Demenz festgestellt werden. Manchmal reichen schon die kleinen Gesten, die kleinen Momente, dass einem bewusst wird: Die Zeit meiner Eltern ist begrenzt. Und manchmal scheint ihr Ende sehr voraussehbar.
Warum aber wollen wir das am liebsten nicht wahrhaben? Warum sträuben sich Kopf und Herz dagegen? «Ein Teil in uns denkt, dass sie irgendwie unsterblich sind», sagt Antje Randow-Ruddies, Autorin des Ratgebers «Verlust der alten Eltern». Als Kind habe man das Bild von ihnen sozusagen eingefroren. «Dass sie sterben können, ist ein Aspekt, den wir wirklich ausblenden – bis sie irgendwann so gebrechlich werden, dass man sich doch damit auseinandersetzt», so die Hamburger Sozialpädagogin.
Wir ahnen: «Wir sind die Nächsten»
Und natürlich sei das Thema auch sehr angstbesetzt für die meisten Menschen: Zum einen, weil sie dadurch mit dem eigenen Tod konfrontiert werden. «Wir ahnen, wenn die Alten sterben, dass wir die Nächsten sind. Auch das wollen wir nicht so gerne wahrhaben», analysiert die systematische Beraterin.
Und da sei in der Tiefe auch die Angst vor dem Alleinsein: «Ohne Eltern zu sein, das können wir uns nicht vorstellen, wie das ist.» Unabhängig davon, welche Bindung man zueinander hat: Ob man über Respekt, Liebe und gegenseitige Achtsamkeit oder gar in Hass oder Traurigkeit verbunden ist. «Ganz egal, wir sind verbunden, ein Leben lang», sagt Randow-Ruddies.
Ob ein Elternteil schon länger erkrankt ist, an Alzheimer leidet oder an Krebs, oder ob die Eltern auch mit Mitte 80 geistig und körperlich noch fit erscheinen, ist dabei unerheblich: Die Gefühle und Fragen kommen. Etwa, wie es mit ihnen weitergeht, wenn sie hilfsbedürftig werden. Wann sich wer um sie kümmert, ob eine Pflegeeinrichtung erforderlich ist oder man sein Gästezimmer freiräumt und selbst weniger arbeitet. Und auch, wie es ist, einmal ohne sie durchs Leben zu gehen. Es sind Überlegungen und Emotionen, die jede Generation der Ü40- oder Ü50-Jährigen beschäftigt.
Für den Berliner Schriftsteller Volker Kitz ist es auch «eine Zeit der Ungeahntheiten, in der sich Verantwortung verschiebt». Da geht es um Zeichen erkennen, deuten und sich eingestehen, um Konsequenzen aushandeln, um Bangen und Abschied nehmen, so Kitz.
Man wünscht sich, die Zeit zurückzudrehen
«Die schwindende Selbstbestimmung der Eltern greift auch unsere Selbstbestimmung an, ein Gut, das unserer Generation so unentbehrlich scheint», so der 49-Jährige. In seinem Werk «Alte Eltern. Über das Kümmern und die Zeit, die uns bleibt», erzählt er die Geschichte seines Vaters, der Witwer war und an Demenz litt.
«Natürlich hat die Demenz ganz besondere Symptome», sagt Kitz. Doch beim Schreiben habe er gemerkt, dass es sich unabhängig davon um ein ganz universales Thema handelt: «Es sind Stationen, die jeden betreffen.» Und es beginnt mit dem Zeitpunkt, an dem man merkt: «Irgendetwas ist nicht mehr so, wie es war. Es muss sich etwas ändern – und ich bin dafür verantwortlich.»
Doch auch wenn es der normale Lauf der Welt ist, fällt es schwer, die Eltern gehen zu lassen. «Weil wir gerne festhalten wollen an dem, was war», meint Kitz. Quasi an der Schablone aus der Vergangenheit. Er selbst wünschte bei seinem Vater zunächst die Zeit von vor zwei Jahren zurück, dann die von vor zwei Monaten. «Irgendwann hätte es mir gereicht, den Zustand von vor zwei Tagen zurückzubekommen», gibt er zu. Bis man den Punkt erreiche, sich klarzumachen, dass dieser jedoch niemals wiederkommt, «das ist ein unglaublich schwerer Prozess.»
Entwicklung geht rückwärts
Dass oft behauptet werde, in der zweiten Lebenshälfte verkehren sich die Verhältnisse, die Eltern würden zu Kindern und umgekehrt, sei falsch, weil er zu beschönigend sei: Denn die Entwicklung eines Kindes sei nach vorn gerichtet, auf Zuwachs, zitiert er den österreichischen Schriftsteller Arno Geiger. Altwerden, zumal Demenz, sei jedoch eine Entwicklung zurück, zu weniger, ins Verschwinden.
Was nicht bedeutet, dass man nach jedem Besuch der Eltern denkt, diese Begegnung könnte die letzte gewesen sein – und jedes Wort und jede Geste im Nachhinein auf die Goldwaage legt. «Da würde man verrückt», weiß der Schriftsteller. Die Lösung, die er am Ende für sich gefunden habe, war die Erkenntnis: «Wenn man im Großen und Ganzen ein gutes Verhältnis hatte, ist es vielleicht gar nicht so wichtig, wo das Leben plötzlich innehält.»
Was will ich noch teilen?
Doch bis es soweit ist, sollte man tatsächlich die schönen Dinge, die der Vater oder die Mutter gerne gemacht haben, ermöglichen: «Ich ermuntere meine Klienten immer sehr, gemeinsam zu überlegen: Was gibt es noch, was will ich noch teilen, was will ich noch leben?», sagt Antje Randow-Ruddies. Volker Kitz etwa hat die gemeinsame Zeit genutzt, um das mit seinem Vater zu tun, was dieser gerne machte: Fußball schauen, Spaziergänge unternehmen oder Kuchen im Café essen.
«Es muss nicht immer die große Weltreise sein», bestätigt Randow-Ruddies. Manchmal sei es vielleicht ein Ausflug mit der Mutter an die Ostsee, wo man früher gemeinsam war. Natürlich könne es dann für die Tochter oder Sohn schmerzhaft sein, sich darüber bewusst zu werden: Das ist das letzte Mal, dass das möglich ist. «Aber da muss man durch. Quasi als Vorbereitung auf den Tod», so die Sozialpädagogin. Erlebnisse wie diese seien dann «kleine Trauer-Portionen von Schmerz», die man vorab erlebe.
«Indem man sich verabschiedet, bedeutet es, wir akzeptieren die Realität und lassen los von bestimmten Vorstellungen und Illusionen.» Letztendlich würde dies später auch die Trauer beim Tod erleichtern. «Es ist wie eine Erinnerungsperle, die in mir ist. Und ich kann mir immer sagen: Wie schön, dass wir das noch gemacht haben, das trage ich in meinem Herzen.»
Unausgesprochenes ansprechen
Die verbliebene Zeit nutzen sollte man jedoch nicht nur für Ausflüge und Aktionen, sondern auch für Gespräche, rät Randow-Ruddies. Vor allem für die bis dato unausgesprochenen Dinge. Und nicht nur Reden hilft, auch Schreiben kann dazu beitragen, die Vergangenheit zu verstehen und den (bevorstehenden) Abschied zu ertragen: «Natürlich muss nicht jeder ein Buch darüber veröffentlichen», sagt Volker Kitz. «Aber Worte zu finden, hilft, weil es auch die Erlebnisse strukturiert. Sie zusammen bilden eine rote Linie, die eine Geschichte ergibt — das hat mir sehr geholfen», sagt Volker Kitz.
Abschied trotz allem immer plötzlich
Eines jedoch ist auch klar: Ganz gleich, ob man sich gut vorbereitet fühlt, ob der Tod zu erwarten oder gar eine Erlösung war: Er kommt trotz allem oft sehr plötzlich. So wie der Schriftsteller Franz Kafka es formuliert hat: «Man sieht die Sonne langsam untergehen und erschrickt doch, wenn es plötzlich dunkel ist.»
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