23. November 2024

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Warum Corona-Regeln weniger befolgt werden

Je länger die Pandemie anhält, desto schwerer fällt es Menschen, sich noch an die Regeln zu halten. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/dpa)

Mehrere Freunde gleichzeitig einladen, die Kosmetikerin ins Haus bestellen, den Kurzurlaub als Dienstreise ausgeben – viele Menschen betrachten die Corona-Verbote lediglich als Empfehlung.

Die gelockerten Bestimmungen dürften die Menschen zu noch mehr Nachlässigkeit verleiten, befürchten nicht nur Virologen und Epidemiologen. Wer von «Pandemiemüdigkeit» spreche, unterschätze das Ausmaß des Dilemmas, sagt der Marburger Sozialpsychologe Prof. Ulrich Wagner.

Regeln werden nur befolgt, wenn Strafe droht

Es gibt Menschen, die bleiben an roten Ampeln stehen – auch wenn kein Auto kommt und es mitten in der Nacht ist, Psychologen nennen das intrinsische Motivation. Andere bleiben nur stehen, wenn ein Auto kommt oder ein Polizist in der Nähe ist, das nennt man extrinsische Motivation. Im zweiten Corona-Jahr befürchtet Wagner, dass die intrinsische Motivation der Menschen stark nachlässt. «Viele Menschen fangen an, sich nur noch an die Regeln zu halten, wenn sie überwacht werden. Die Corona-Regeln können nur schlecht überwacht werden. Das ist ein sehr ernstes Problem.»

Nach Monaten von Einschränkungen hätten die Menschen das Gefühl, dass sich an der Lage ohnehin nichts ändert, egal wie sie sich verhalten. «Man nennt das gelernte Hilflosigkeit», erklärt der Marburger Psychologe. Darauf gebe es drei mögliche Reaktionen: «Ich werde depressiv, ich werde aufsässig oder ich lasse es laufen.» Alle drei Reaktionen seien bereits zu beobachten, sagt Wagner. Er glaubt, dass sich alle drei noch verstärken werden.

Die komplizierten Regeln, die in der vergangenen Woche verabschiedet wurden, bergen Wagner zufolge zusätzlich die Gefahr, «dass die Menschen überfordert sind». Lockdown-Verlängerung bei gleichzeitigen Lockerungen – das sende mehrdeutige Botschaften. Auch der Epidemiologe Rafael Mikolajczyk hält die Bund-Länder-Beschlüsse für ein falsches Signals an die Bevölkerung. «Lockerung in den Einstellungen kann größere Folgen haben als die Regeln selbst», erklärte der Wissenschaftler der Universitätsklinik Halle vergangene Woche. Das vereinbarte regionale Vorgehen sei zwar psychologisch und politisch verständlich, «epidemiologisch ist es kurzsichtig».

Der Schutz anderer taugt nicht mehr als Narrativ

Wagner erklärt das so: «Eine Gesellschaft funktioniert nur dann, wenn die Menschen bereit sind, sich freiwillig an die Regeln zu halten. Das setzt voraus, dass man von den Regeln überzeugt ist.» Der Psychologe glaubt nicht, dass das beim Thema Corona noch bei allen der Fall ist. «Die Menschen schaffen es, sich an die Corona-Regeln zu halten, wenn sie schwere negative Folgen für sich selbst befürchten. Dieses Motiv tritt gerade in den Hintergrund. Was die Menschen sehen, ist, dass die Zahl der Todesfälle sinkt.»

Sich selbst einschränken, um andere zu schützen – dieses Narrativ sei «aufgebraucht», sagt Wagner. Ethisch sei es sehr «honorig», psychologisch funktioniere es aber nicht auf Dauer. Heute sei das «nur noch eine schöne Geschichte, die wir uns erzählen». Auch ein weiteres Narrativ hält Wagner für problematisch: Seit einem Jahr werde die Verantwortung allein auf das Individuum geschoben. «Der Vorwurf lautet: Wenn es nicht besser wird, haben wir uns nicht genug zusammengerissen.» Damit ziehe sich der Staat aus der Verantwortung.

Menschen lernen mit der Krankheit zu leben

Dass die Menschen abstumpfen, zeigen auch Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Die jüngste Sonderauswertung von Mobilfunkdaten beweist, dass die Menschen rund ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie ihre Mobilität kaum noch einschränken. Schon seit Jahresanfang sei «eine Angleichung der Mobilität an das Vorkrisenniveau zu beobachten», berichten die Statistiker. In der zweiten Februarhälfte habe sich die Mobilität – bei frühlingshaften Temperaturen – «stark dem Vorkrisenniveau angenähert».

Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass es zwei Wege gibt, wie eine Pandemie endet. Nach Ansicht von Historikern geht das entweder medizinisch – oder sozial. Das medizinische Ende kommt, wenn ein Großteil die Infektion überstanden hat oder durch Impfung immun ist. Das soziale Ende findet eher in den Köpfen statt: Die Angst vor der Krankheit nimmt ab, die Aufmerksamkeit lässt nach, andere Themen treten in den Vordergrund, die Menschen nehmen die Einschränkungen nicht mehr hin – man lernt, mit der Krankheit zu leben.

«Ich glaube, dass das tatsächlich so sein wird», sagt Psychologe Wagner. Wenn wir durch Impfungen und Medikamente Todesfälle und schwere Verläufe reduzieren und damit die Pandemie gefühlt in den Griff bekommen, «dann definieren wir sie einfach für uns weg».

Von Sandra Trauner, dpa