Bevor die Corona-Pandemie seine Patienten von der Praxis fernhielt, hatte der Frankfurter Psychotherapeut Serkan Het eine Handvoll Video-Sprechstunden pro Jahr. Inzwischen berät er 80 Prozent seiner Klienten online.
Manches ist fernmündlich mühsamer, berichtet er, aber er erfährt auch manches, was ihm sonst verborgen geblieben wäre. Die Zahlen haben sich bei vielen Therapeuten in Hessen rasant entwickelt, wie die Techniker Krankenkasse (TK) mitteilte. Während im ersten Quartal des vergangenen Jahres zunächst knapp 3500 Online-Therapiestunden bei Versicherten abgerechnet wurden, waren es im zweiten Quartal bereits 26.740 – eine Steigerung um 665 Prozent. Aktuell bieten in Hessen schätzungsweise 2500 Psychotherapeuten Videosprechstunden an.
Pandemie macht Therapie nur noch online möglich
Im ersten Lockdown im vergangenen Jahr sei die Fernbehandlung «noch sehr ungewohnt» gewesen, sagt Heike Winter, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Hessen. «Die Erfahrung hat dann gezeigt, dass es den meisten Menschen in der Onlinetherapie doch einfacher fiel als erwartet, ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken und sich auf die Therapie einzulassen.»
Der Grund, per Video mit dem Therapeuten zu kommunizieren statt in die Praxis zu kommen, ist erstmal der Infektionsschutz: «Ich kann mich selbst und den Patienten schützen», sagt der 43-jährige Het, der sich 2013 mit einer eigenen Praxis in Frankfurt niedergelassen hat. Manchmal hätten Patienten auch Angst vor dem Weg, vor allem mit öffentlichen Verkehrsmitteln, und blieben lieber zu Hause.
Dann schickt Het ihnen einen Link mit einer Einladung zu einer Zweier-Videokonferenz. Wenn der Klient sie anklickt, wird eine geschützte Verbindung aufgebaut. Andere Anbieter arbeiten mit Apps, die sich beide vorher herunterladen müssen. Wenn ein Therapeut eine Videosprechstunde als Kassenleistung abrechnen will, muss er einen zertifizierten Anbieter nutzen. Um Kunden zu gewinnen, bieten einige Anbieter ihre Leistung derzeit noch kostenlos an, der Markt ist groß.
Instabile Internetverbindung und oft kein Rückzugsort
Steht die Verbindung, sieht der Diplom-Psychologe einerseits mehr, anderseits weniger, wie er erzählt: «Ich sehe zum Beispiel, in welcher Unordnung oder Ordnung er oder sie lebt, aber ich sehe nicht, ob er mit dem Fuß wippt, mit den Händen spielt.» Normalerweise helfe auch der Geruch bei der Einschätzung, sagt der Therapeut, ein Indiz, ob jemand unter Stress steht oder sich gehen lässt.
Seine Erfahrungen decken sich mit denen vieler Kollegen, wie eine Umfrage der Bundespsychotherapeutenkammer zeigt. Neun von zehn Therapeuten bieten Videosprechstunden an, ebenso viele wollen das auch nach dem Ende der Pandemie fortführen. Als größtes Hindernis nannten viele der 3500 Befragten instabile Internetverbindungen.
Auch Het findet das «echt nervig», wenn der Kontakt abbricht oder das Video ruckelt. Schwierig sei auch, wenn Patienten zu Hause keinen geschützten Raum hätten. Eine Frau, erzählt er, hat sich für die Therapiestunde immer vor ihrem Haus ins Auto gesetzt und vorbeilaufenden Nachbarn freundlich zugewunken.
Anonymität hilft bei erstem Gespräch
Unsicher war Het, ob Erstgespräche, bei denen man sich erst «beschnüffeln» muss, auch funktionieren. Zu seiner Überraschung läuft das gut: Die größere Anonymität fänden viele positiv. «Man präsentiert nicht so viel von sich auf einmal.» Ebenfalls überrascht hat ihn, dass sich die Themen mit Corona gar nicht so verändert haben. Ängste und Zwänge, Unzufriedenheit am Arbeitsplatz und Beziehungsprobleme stünden weiterhin im Mittelpunkt.
«Mit Hilfe der digitalen Technik konnten begonnene Psychotherapien unkompliziert weitergeführt oder neue Therapien begonnen werden. Damit hat die Videosprechstunde gerade in der Pandemie, die viele Menschen noch zusätzlich belastet, ihr Potenzial gezeigt», sagt Barbara Voß, Leiterin der TK-Landesvertretung in Hessen.
Heike Winter freut sich dennoch darauf, wenn wieder der persönliche Kontakt möglich sein wird. «Gerade bei Themen, die unsere Patientinnen und Patienten stark belasten, ist das persönliche Treffen wichtig» sagt die Kammerpräsidentin. In der Bilanz der bundesweiten Umfrage hieß es: «Videobehandlungen sind eine wichtige Ergänzung, aber kein Ersatz für Behandlungen im unmittelbaren Kontakt.»
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