In der Wohnung von Ludger Heiermann liegen viele Schachbücher verteilt. Immer wieder zieht der Berliner die Fachliteratur zu Rate. Er ist immer auf der Suche nach dem perfekten Zug.
In der Corona-Pandemie hat der 62-Jährige noch mehr Zeit, seiner Leidenschaft, dem Fernschach, zu frönen. «Theater, Musik und andere Kulturveranstaltungen sind ja gerade nicht möglich», sagt Heiermann.
Momentan spielt er etwa 100 Partien gleichzeitig, gegen Spieler aus aller Welt, und verbringt etwa ein bis zwei Stunden täglich mit seinem Hobby. Normalerweise sind es etwa 30 Partien. Das Besondere: Heiermann gehört zu den wenigen Spielern, die ihre Züge zum Teil noch traditionell per Postkarte übermitteln.
Pro Zug eine Postkarte, das ist das Prinzip. «Man hat für jeden Zug einige Tage Bedenkzeit. Zeit, die man nicht braucht, kann man ansparen. Ich habe also unglaublich viel Zeit», erklärt Heiermann.
«Die Postkarte ist auch etwas Nostalgie», so der Schachspieler. Viele andere Spieler seien längst ausschließlich auf elektronische Medien umgestiegen. Auch er auf einem Schachserver. «Außerdem nutze ich für Analysen meiner Spiele auch den Computer», so Heiermann, der seit 42 Jahren Schach spielt.
Durch die lange Bedenkzeit und die zusätzliche Postlaufzeit können Partien und Turniere Jahre dauern. So kam es zum Beispiel, dass die Siegerehrung der Fernschach-Olympiade von 1987 erst 1995 stattfand. Und die DDR noch einen Titel holte, obwohl sie gar nicht mehr existierte.
Postkarten-Schachspieler sind inzwischen echte Exoten. «Jungen Menschen fehlt die Ausdauer für jahrelange Partien», sagt Manfred Scheiba, Präsident des Deutschen Fernschachbundes, der im August sein 75-jähriges Bestehen feiert. Von den etwa 1500 Mitgliedern nutzten nur noch etwa 80 bis 100 die Postkarte, berichtet Scheiba.
«Außerdem ist es auch eine Kostenfrage», sagt der Präsident. «Wenn ich bei einem Turnier gegen sechs Gegner spiele und pro Spiel im Schnitt 30 Züge anfallen, kostet das etwa 110 Euro», rechnet der Betriebswirt Heiermann vor, der im mittleren Management eines Unternehmens arbeitet.
«Spezielle Postkarten für Fernschach haben wir gar nicht mehr im Sortiment», sagt Christoph Kamp, Inhaber des Schachversands Niggemann aus Münster. «Das Schachspiel an sich boomt derzeit aber extrem», betont er. Auch das Gegenteil von Postkarten-Schach hat viele Fans: «Beliebt ist auch das Blitzschachspiel am Computer, bei dem die Spieler nur eine Minute Bedenkzeit haben und instinktiv spielen müssen. Dafür werden sogar besonders schnelle Laser-Mäuse genutzt», so Kamp.
Beim Postkartenschach sei an die Stelle des schach-sportlichen Wettstreits früherer Tage heute ein geradezu wissenschaftliches Streben nach der immer perfekteren Schachpartie getreten. «Dadurch, dass viel Unterstützung durch Computer und Literatur genutzt wird, gibt es so gut wie keine menschlichen Fehler mehr und viele Partien enden mit einem Remis», sagt Kamp.
«Ich bin ein durchschnittlicher Spieler», betont Heiermann, den der intellektuell-kreative Prozess des Spiels fasziniere. «Ich lebe das Spiel aus, freue mich, wenn ich gewinne und etwas gelernt habe», betont er. Sein größter Erfolg: der Gewinn einer ersten Etappe eines noch postalisch gespielten Weltcups.
Faszinierend für ihn auch: die Vielfalt. «Von etwa 1500 Partien, die ich bisher gespielt habe, haben sich nur zwei Partien wiederholt», so Heiermann. Um den Überblick zu behalten und ein Spiel zu analysieren, notiert er sich den jeweiligen Spielverlauf in einer Kladde.
Er mag zudem den menschlichen Aspekt: Zu Beginn einer Partie tauscht er mit den Gegnern jeweils einige persönliche Sätze aus. «Momentan spiele ich zum Beispiel gegen einen 80-jährigen Norweger, der sich beklagt hat, dass er ständig verliere», erzählt Heiermann. Er habe ihm erklärt, dass viele Spieler zur Unterstützung Computer nutzten. Doch der Norweger habe betont, er spiele nur mit dem Herzen.
Durch das jahrelange Spiel miteinander seien mitunter auch schon Freundschaften entstanden, in früheren Jahren auch mit Spielern aus der DDR und der Sowjetunion. «Einige Schachfreunde habe ich auch schon besucht», so Heiermann.
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