Was andere aufputscht, bringt Christian Krohn etwas runter. «Ich kann mit Kaffee im Körper schlafen, das macht mir überhaupt nichts aus. Das beruhigt mich eher», sagt der 52-Jährige aus Berlin.
Christian Krohn hat ADHS. Vor zwei Jahren bekam er die Diagnose. Menschen mit ADHS reagieren auf stimulierende Substanzen anders als Menschen ohne die Störung. Koffein, Nikotin und Amphetamine wirken bei ihnen nicht anregend, sondern eher beruhigend.
Das liegt daran, dass ihr Gehirn anders funktioniert. Zum Beispiel sind im Vergleich zu Menschen ohne ADHS verschiedene Neurotransmitter nicht im Gleichgewicht, insbesondere Dopamin und Noradrenalin. Diese steuern unter anderem Antrieb und Motivation.
Hyperaktivität zählt neben Konzentrationsschwierigkeiten und Impulsivität zu Kernsymptomen von ADHS – sie steckt auch schon im Namen: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Wie stark und auf welche Art und Weise die Symptome bei den Betroffenen ausgeprägt sind, ist sehr individuell. Während manche ohne Probleme durch ihr Leben kommen und ihre ADHS vielleicht gar nicht bemerken, ist der Leidensdruck bei anderen größer.
Zum Teil wird ADHS außerdem immer noch als Kinderkrankheit wahrgenommen, kritisieren Expertinnen und Experten. Dabei nehmen viele Kinder die Störung mit ins Erwachsenenalter – und mitunter wird sie überhaupt erst dann diagnostiziert.
Blind für die Zeit
So wie bei Christian Krohn. Er hat vor allem mit sogenannter «Time-Blindness» zu kämpfen, ist also quasi zeitblind. «Ich lebe immer im Jetzt», sagt er. Termine zu organisieren, an Geburtstage zu denken oder Deadlines einzuhalten, das alles fällt ihm sehr schwer.
Auch die ADHS-typische Impulsivität hat er bereits an sich beobachtet. «Ich bin oft ungeduldig. Mir fällt es schwer, Leute ausreden zu lassen. Außerdem bin ich Impulskäufer.»
Wenn der Kopf in den Turbo-Gang schaltet
Zudem spürt Krohn dauerhaft große innere Unruhe und Anspannung in sich – ein Gedanke jagt den nächsten. «Im Kopf ist ständig Turbo», sagt er. «Wie bei einem Motor, der mit einer hohen Drehzahl läuft.» Wenn er ein Thema oder eine Aufgabe gefunden hat, woran er wirklich Interesse hat, ist der «Turbo-Gang» natürlich von großem Vorteil. Hyperfokus nennen Experten dieses Phänomen.
«Ich liebe diesen Teil der ADHS. Ich kann in solchen Momenten dauerhaft konzentriert arbeiten und Höchstleistungen erbringen, ohne dass es mich anstrengt», sagt Krohn. Lange war er Unternehmensberater und später für Siemens im Bereich Strategie und Business Development tätig. Mittlerweile hat er sich erfolgreich selbstständig gemacht.
Krohn sagt: «ADHS’ler sind oft sehr offene, sonnige und begeisterungsfähige Menschen. Viele haben es nicht trotz ihrer ADHS, sondern gerade wegen ihres großen inneren Antriebs und ihrer Risikobereitschaft so weit gebracht.»
Prominente, die ihre ADHS öffentlich gemacht haben, sind etwa Moderator und Arzt Eckart von Hirschhausen, Sänger und Schauspieler Justin Timberlake und US-Turn-Olympiasiegerin Simone Biles.
Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen
Während bei Kindern die Hyperaktivität oft äußerlich sichtbar ist, weil sie nicht still sitzen können, ist die Unruhe bei Erwachsenen eher nach innen gerichtet. Zudem gibt es auch Formen von ADHS, bei der die Hyperaktivität als Symptom gar nicht auftritt.
«Es gibt nicht den ADHS-Patienten», sagt die Psychiaterin und Neurologin Johanna Krause. Sie hat mit ihrem Mann Anfang der 2000er Jahre ein Standardwerk zu ADHS im Erwachsenenalter geschrieben und setzt sich dafür ein, dass ADHS bei Erwachsenen richtig diagnostiziert und behandelt wird.
«Es hat lange gedauert, bis sich die Fachwelt davon verabschiedet hat, ADHS nur einseitig als Kinderkrankheit zu sehen», erklärt sie. «Teilweise ist das immer noch nicht richtig angekommen, es gibt viel zu wenig Ärzte, die sich mit dem Thema richtig gut auskennen.»
Je nach Studie wird bei 3 bis 6 Prozent aller Kinder ADHS diagnostiziert, bei Jungen häufiger als bei Mädchen. Etwa die Hälfte von ihnen nimmt ADHS mit ins Erwachsenenleben.
Aufwendige Diagnostik
«Die Diagnostik bei ADHS ist zwar zuverlässig, aber auch sehr aufwendig. Es müssen Fragebögen ausgefüllt und ausführliche Gespräche geführt werden», sagt Felix Betzler. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie leitet die ADHS-Sprechstunde für Erwachsene an der Charité Berlin. Es wird bei der Diagnostik unter anderem in die Kindheit und auf das Familienumfeld geschaut. So kommt es nicht selten vor, dass es in der Familie mehr als einen Betroffenen gibt.
Häufiger haben ADHS-Patienten auch Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen, teilweise als Folge von Misserfolgen und Problemen im Leben. Obwohl die Patienten teils deshalb behandelt werden, bleibe ADHS oft undiagnostiziert, so Betzler. Ein Teil der Betroffenen finde erst nach einer regelrechten Odyssee den Weg in seine Sprechstunde.
Mittlerweile gibt es gute Behandlungsmöglichkeiten. «Vor allem bei einer stark ausgeprägten ADHS erzielen Medikamente einen deutlichen Effekt», sagt Betzler. «Das heißt jedoch natürlich nicht automatisch, dass Medikamente für jeden Patienten der richtige Weg sein müssen.»
Zusätzlich oder alternativ wird eine Psychotherapie empfohlen, in der die Patienten zum Beispiel Strategien entwickeln können, um mit der ADHS im Alltag besser umzugehen.
Mehr Verständnis und Wohlwollen
Mehr Wohlwollen gegenüber ADHS’lern, das würde sein Leben erleichtern, sagt Christian Krohn. Die Symptomatik stoße auf Unwissen und Unverständnis. Oft würde sein Umfeld nicht verstehen, warum er «sich nicht einfach mehr anstrengen» könne, sagt er. «Ich glaube, vielen ist nicht bewusst, dass ich wirklich nicht anders kann.»
2019 kam Tool, eine seiner Lieblingsbands, nach einer langen Pause nach Deutschland. «Ich habe erst den Vorverkaufstermin verpasst, habe dann auf Ebay ein Ticket für 150 Euro erstanden und im Endeffekt das Konzert verpasst», erzählt er und schüttelt mit dem Kopf.
«Als Betroffener und Angehöriger bleibt einem fast nichts anderes übrig, als das Ganze mit Humor zu nehmen», sagt er schulterzuckend. «Denn so nervig ADHS manchmal ist, so praktisch ist sie in vielen anderen Fällen.» Christian Krohn lacht, dann sagt er: «Und langweilig macht sie das Leben auf jeden Fall nicht.»
Literatur:
Johanna Krause und Klaus-Henning Krause: ADHS im Erwachsenenalter. Schattauer Verlag, Stuttgart 2014, 45 Euro, ISBN-13: 978-3-7945-2782-3. (1. Auflage: 2003)
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