Seit jeher galt: Landkinder sind fitter als Stadtkinder. «Inzwischen hat sich das aber umgekehrt», sagt der Potsdamer Trainings- und Bewegungswissenschaftler Urs Granacher. Dies gelte für Deutschland ebenso wie für andere Länder.
Doch wie kann das sein, wo es in den immer dichter bebauten Städten doch immer weniger Raum für spielende Kinder gibt? «Der Grund ist, dass es einen extremen Rückgang beim freien Spiel gibt», erklärt Granacher, Professor für Trainings- und Bewegungswissenschaft an der Universität Potsdam. «Bewegung draußen ohne organisierten Rahmen findet kaum noch statt.» Auch auf dem Land werde lieber am Computer gedaddelt als die Bude im Wald gebaut. Wenn Kinder sich außerhalb des Schulsports überhaupt noch bewegten, dann meist in Sportvereinen – und in dem Bereich sei das Angebot in der Stadt meist weitaus besser als auf dem Land. «Wer dort nicht Fußball spielen möchte, kann schnell ein Problem bekommen.»
Weniger Kinder verbringen Freizeit im Freien
Die «Emotikon»-Studie in Brandenburg, in die seit 2009 fast 200.000 Drittklässler einbezogen worden seien, habe zudem ergeben, dass Kinder vor allem bei der Ausdauer schlechter abschneiden. «Dies zeigt sich nicht nur für Brandenburg, sondern auch für Deutschland und weltweit. Die körperliche Fitness von Kindern ist erheblich schlechter als vor 20, 30 Jahren», sagt Granacher. Ein aus der Altersmedizin bekannter Begriff für den Kraftrückgang im Alter, die Dynapenie, werde aufgrund dieser Tendenzen auch auf Kinder angewandt und als pädiatrische Dynapenie bezeichnet. «Betroffene Kinder haben nicht mehr ausreichend Muskelkraft für spielerische Aktivitäten wie das Klettern auf einem Klettergerüst.»
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt für Kinder und Jugendliche täglich mindestens 60 Minuten körperliche Aktivität bei moderaten bis hohen Intensitäten. «Das ist die Minimalempfehlung wohlbemerkt», so Granacher. Weltweit erfüllt ein großer Teil der Kinder die Empfehlung nicht, bei den Jugendlichen bewegen sich nach den zuletzt verfügbaren Daten 80 Prozent nicht genug. «Und das war vor der Pandemie.» Wegen der vielen Folgen für die Gesundheit werde Bewegung unterhalb der empfohlenen WHO-Minimalzeit inzwischen als Krankheitsbild definiert, genannt Exercise Deficit Disorder (EDD, etwa: Störung durch Bewegungsmangel).
Mit der Corona-Krise dürfte sich das Problem in vielen Ländern noch dramatisch verschärft haben. Schul- und Vereinssport, selbst der Weg zur Schule fielen über Monate weg. «Das ist noch mal ein Brandbeschleuniger», ist der Stuttgarter Bewegungsexperte Clemens Becker überzeugt. Binnen eines Jahres könne sehr viel Muskelmasse, Koordination und Ausdauer verloren gehen. Auch Granacher betont: «Da bricht unglaublich viel weg.» Gerade weil es inzwischen weniger freies Spiel gebe, wirkt sich der Ausfall von Schul- und Vereinssport besonders stark aus.
Weniger Bewegung im zweiten Lockdown
«70 Prozent der Kinder in Deutschland betreiben normalerweise Vereinssport», sagt Dietmar Pennig, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) und der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU). Die ohnehin schon vorhandenen koordinativen Verluste hätten sich im Zuge der Pandemie ganz sicher noch einmal verschärft. «Der Profifußball durfte weiter trainieren – mir persönlich wären die Kinder wichtiger gewesen.» Zumindest im Freien wäre da viel möglich gewesen. «Die Kinder haben leider eine schlechtere Lobby als andere Gruppen.»
Während sich viele Kinder im ersten Corona-Lockdown – bei schönem Frühlingswetter – noch häufig draußen aufhielten, bewegten sie sich gemäß einer Studie des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) im zweiten Corona-Lockdown erheblich weniger als üblich. Eine andere Freizeitaktivität legte dafür immens zu: der Medienkonsum. Im Mittel saßen die an der Studie beteiligten 4- bis 17-Jährigen 222 Minuten am Tag vor Bildschirmen, 28 Minuten länger als im ersten Lockdown.
War es lange nur das Fernsehen, das Kinder und Jugendliche stundenlang auf die Couch bannte, kommen heute Videospiele, Youtube-Videos und soziale Medien hinzu. Nach der Ende vergangenen Jahres vorgestellten JIM-Studie erfuhren die 12- bis 19-Jährigen 2020 noch einmal einen deutlichen Schub in der Ausstattung mit Mediengeräten. Der persönliche Besitz eines Computers oder Laptops stieg von 65 auf 72 Prozent, der eines eigenen Tablets von 25 auf 38 Prozent. Jeder dritte Jugendliche hat inzwischen einen Fernseher mit Internetzugang.
Bewegung besonders wichtig in der Entwicklungsphase
Die tägliche Internetnutzungsdauer stieg nach Einschätzung der Jugendlichen von 205 Minuten im Jahr 2019 auf 258 Minuten in 2020, vor allem im Bereich Unterhaltung. Die durchschnittliche werktägliche Fernsehdauer stieg auf mehr als zwei Stunden, die durchschnittliche Nutzungsdauer digitaler Spiele um 40 auf 121 Minuten. Weniger Bewegung bei höherem Medienkonsum – das sei «ein gefährlicher Cocktail», warnt Granacher. Es werde ganz sicher langfristige Auswirkungen für die betroffenen Kinder geben, wenn nicht geeignete Maßnahmen ergriffen werden.
Davon ist auch Pennig überzeugt. Ein Minus an Bewegung in dieser lebensprägenden Entwicklungsphase habe Auswirkungen auf das gesamte Leben, sagt der Ärztliche Direktor und Chefarzt am St. Vinzenz-Hospital in Köln. Zum einen mieden Kinder, die etwa wegen mehr Gewicht und verschlechterter Motorik beim Spiel mit Gleichaltrigen häufiger verlören, das Toben und Spielen oft ganz. Zum anderen sei es generell so, dass sich das Bewegungsverhalten in Kindheit und Jugend verfestige. Aus inaktiven Kindern werden mit großer Wahrscheinlichkeit inaktive Erwachsene.
Ohnehin lasse sich eine von Grund auf fehlende Basis kaum noch aufholen. Mit zunehmendem Alter werde es zum Beispiel immer schwerer, den ab etwa dem 40. Lebensjahr beginnenden Schwund an Knochenmasse aufzuhalten, erklärt Pennig. «Und wenn ich von vorherein nur mit 80 statt 100 Prozent starte, kommen die Probleme schneller.» Wichtig ist den Experten zufolge nun, den Verlust an Koordination, Kraft und Ausdauer möglichst wieder aufzuholen. Dafür müssten an den Schulen gezielte Förderangebote geschaffen werden, so Granacher.
Sport ist die beste Medizin
«Sonst droht aus der Covid-19-Pandemie eine körperliche Inaktivitätspandemie mit allen negativen gesundheitlichen Konsequenzen zu werden.» Zu berücksichtigen sei dabei, wenn der Sportunterricht wieder regulär stattfinden kann, dass es nicht auf demselben Fitness-Niveau wie zuvor losgehen könne. «Das Verletzungsrisiko ist vermutlich erheblich größer geworden.» Zunächst müsse zwei bis drei Monate lang die körperliche Fitness wieder gezielt aufgebaut werden.
Das sei umso wichtiger, da diese sich auch auf viele andere Faktoren wie Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit positiv auswirke. «Es gibt bereits den Ansatz, Training so zu verschreiben wie man ein Medikament verschreiben würde», sagt Granacher. «An das breite Wirkungsspektrum von körperlicher Aktivität und Sport kommt keine Pille ran.»
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