Die Mutter wünscht sich für die siebenjährige Tochter eine Schutzimpfung gegen Corona, und zwar am liebsten sofort. Der Vater ist strikt dagegen.
So ein Streit könnte in diesen Tagen bei vielen Eltern auftreten. Denn die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) hat den Impfstoff von Biontech/Pfizer für 5- bis 11-Jährige zugelassen. Damit steht auch hierzulande offiziell ein Impfstoff für die Altersgruppe bereit.
Stiko-Empfehlung steht noch aus
Das bedeutet, dass nun wohl mehr Kinderärztinnen und Kinderärzte bereit sind, diese Impfungen für unter 12-Jährige anzubieten. Eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) dazu steht allerdings noch aus – viele Mediziner warten diese erst ab, ehe sie bestimmten Personengruppen Impfungen anbieten. Der Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens hatte angekündigt: Das Ziel sei, vor Jahresende eine Empfehlung abzugeben.
Richtig Fahrt aufnehmen sollen die Kinderimpfungen kurz vor Weihnachten. Denn ab dem 20. Dezember sollen 2,4 Millionen Dosen des Impfstoffes für Kinder verfügbar sein, weitere Lieferungen seien in den ersten Monaten des neuen Jahres zu erwarten. Das hat der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) angekündigt.
Wenn der Streit eskaliert
So ist also der Stand: Der Impfstoff ist für diese Altersgruppe zugelaessen, in wenigen Wochen soll eine Menge davon zur Verfügung stehen, eine Stiko-Empfehlung gibt es noch nicht. Damit zurück zum geschilderten Szenario: Die Mutter möchte die Impfung, der Vater nicht. Wie geht es in solchen Fällen weiter?
«In intakten Familien wird es bei Unstimmigkeiten einen heftigen Austausch geben und schließlich eine Einigung», sagt Eva Becker, Rechtsanwältin und Expertin für Familienrecht.
Wenn das nicht gelingt, könnte ein Elternteil vor Gericht ziehen. «Das muss die Person sein, die eine Impfung durchführen will, obwohl das andere Elternteil dagegen ist», sagt Becker. Denn diese Person möchte eine alleinige Entscheidung treffen, obwohl das bei einem geteilten Sorgerecht nicht erlaubt ist, erklärt die Anwältin.
Gericht prüft: Wer hat die besseren Argumente?
Mit solchen Fällen mussten sich Gerichte auch schon vor der Coronapandemie immer wieder beschäftigen – auch um Impfungen gegen Masern, Tetanus oder Keuchhusten kann es Streit in Familien geben.
Das Gericht bestimmt in so einer Situation nicht, ob ein Kind geimpft wird oder nicht. «Sondern es entscheidet, wer die Entscheidung für das Kind treffen darf», sagt Eva Becker.
Richterinnen und Richter können die Entscheidung also nicht an sich ziehen. Sie können nur bewerten, wer die besseren Argumente zu bieten hat und wer vernünftiger abwägt, so die Expertin.
Wille und Wohl des Kindes
Außerdem spielen der Wille und natürlich das Wohl des Kindes eine Rolle. Im Alter von fünf bis elf Jahren dürfen Kinder zwar noch nicht selbst über medizinische Fragen wie Impfungen entscheiden. Erst ab 14 Jahren wird ihnen die geistige Reife dafür grundsätzlich zugetraut, dann spielt ihre Meinung eine größere Rolle.
Doch auch für Jüngere gilt: «Was sie sagen, hat Gewicht. Deshalb werden sie angehört», sagt Becker. Darüber hinaus sind vor allem die Argumente der Eltern entscheidend – und deren Grundlage.
Also: Wurden ärztliche Ratschläge eingeholt oder bestehen Vorerkrankungen, die für eine Impfung sprechen? «Wer sich an der Wissenschaft und an Fach-Gremien orientiert, hat vor Gericht natürlich bessere Chancen als Eltern, die sich eher an Verschwörungstheoretiker halten», sagt Becker.
Die Rolle der Stiko-Empfehlung
Besteht eine Stiko-Empfehlung für eine Impfung, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese maßgeblichen Einfluss auf das Urteil hat. Das zeigt ein Blick in die bisherige Rechtssprechung.
So beschloss zum Beispiel das Oberlandesgericht Frankfurt am Main im August 2021 im Streit um die Corona-Impfung eines 16-jährigen Kindes: Liegen eine Stiko-Empfehlung und der Willen des Kindes vor, sich impfen zu lassen, wird die Impfentscheidung dem Elternteil übertragen, das für die Impfung ist (Az.: 6 UF 120/21).
Orientierungshilfen für Eltern
Mit Blick auf die Corona-Impfung für Kinder kann es in vielen Familien Unsicherheiten oder Streitigkeiten geben – ohne dass diese vor Gericht landen. Woran sollten sich Eltern orientieren, wenn sie über die Impfung ihrer Kinder entscheiden müssen?
Der Berliner Kinderarzt Jakob Maske hat eine klare Meinung: Er rät Eltern, auf die Stiko-Empfehlung zu warten. Denn die mache ganz klar, ob die Impfung sinnvoll sei. «Ob ihr Nutzen also größer ist als das Risiko», so der Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte.
Risikofaktoren spielen eine Rolle
«Es muss eine Studienlage geben, die zeigt, dass die Impfung für Kinder sicher ist und tatsächlich etwas bringt», sagt Maske. Hinzu kommen persönliche Faktoren – etwa die Lebensumstände oder mögliche Risikofaktoren, die im Fall einer Corona-Ansteckung einen schweren Covid-19-Verlauf wahrscheinlicher machen.
Der Pädiater geht davon aus, dass es auch in einer möglichen Stiko-Empfehlung einige individuelle Formulierungen geben wird: «Möglicherweise rät man dazu, Kinder mit bestimmten chronischen Erkrankungen eher zu impfen als gesunde Kinder.»
Ein weiterer Risikofaktor könnte sein, dass es etwa chronisch kranke Familienmitglieder gibt, die durch eine Impfung des Kindes indirekt besser vor Ansteckung geschützt werden.
Wertfrei diskutieren
Doch auch mit vorhandener Stiko-Empfehlung kann es passieren, dass die Familie übers Impfen streitet. Was rät Maske in dieser Situation?
«Man kann nicht immer Einigkeit zwischen zerstrittenen Eltern erzeugen, aber es macht immer Sinn, sich von einem unabhängigen Spezialisten beraten zu lassen», sagt der Mediziner. «Natürlich gibt es auch zwischen Kinder- und Jugendärzten unterschiedliche Meinungen, aber man sollte sich die Vor- und Nachteile schildern lassen und wertfrei darüber diskutieren.»
Am wichtigsten sei es, das Wohl des Kindes im Auge zu behalten. «Teilweise merken wir als Ärzte, dass es eher um Schwierigkeiten zwischen den Eltern geht und weniger ums Kind.»
Zusätzlich oder vorbereitend zur ärztlichen Beratung können sich Eltern selbst über die Vorteile und möglichen Risiken der Impfung informieren – hier sollte man auf fundierte Quellen achten. Eine gute Anlaufstelle im Internet sind beispielsweise die Website des Robert Koch-Institutes und das Portal «Infektionsschutz.de» von der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA).
Beratung durch das Jugendamt
Herrscht trotz guter Information und ärztlicher Beratung keine Einigkeit, muss der Familienstreit nicht gleich vor Gericht landen.
Vorher könnten sich Eltern ans Jugendamt oder an andere Beratungsstellen wenden und versuchen, zu einer Einigung zu kommen, sagt Anwältin Eva Becker. «Das macht aber nur Sinn, wenn man offen für die Meinung des Anderen ist und bereit ist, diese zu erwägen.»
Außerdem könne es zeitliche Probleme geben: «Wenn der nächste Beratungstermin erst in vier bis acht Wochen frei ist, kann der Weg vor Gericht bei eiligen Fällen der schnellere sein.» Gerade bei einer Corona-Schutzimpfung kann es vorkommen, dass ein Elternteil nicht monatelang abwarten möchte, bis die Partnerin oder der Partner ebenfalls vom Nutzen der Spritze überzeugt ist.
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