Es geht um eine ethisch schwierige Klärung und eine scharfe Kehrtwende der deutschen Corona-Politik: In einer offenen Orientierungsdebatte dikutiert der Bundestag über eine lange ausgeschlossene allgemeine Impfpflicht.
Sie könnte eine Art letztes Mittel sein, um den Ausweg aus der Pandemie zu finden. Dabei geht es nicht einfach um Ja oder Nein, sondern auch um mögliche Zwischenlösungen und diverse praktische Aspekte. Und um die wichtige Frage, ob eine Lösung Spannungen auflösen kann oder sie verschärft.
Warum kommt überhaupt eine Impfpflicht auf den Tisch?
Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte schon zum Amtsantritt klar gemacht, dass er nun eine Impfpflicht befürworte. Auch die Ministerpräsidenten haben sich so positioniert. Denn das breit getragene Kalkül in puncto Impfen ist schlicht nicht aufgegangen: Gerade um Impfgegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen, war die Impfpflicht ausgeschlossen worden. Doch das ganze Land habe gelernt, «dass etwas nicht gelungen ist, auf das wir so sehr gesetzt haben», erläuterte Scholz: «Dass wir eine ausreichend hohe Impfquote allein durch Überzeugung erreichen.»
Was ist das Besondere an der Debatte?
So klar Scholz für die Impfpflicht wirbt, so klar ist auch: Als Regierungschef selbst konzipieren und umsetzen will er sie nicht. SPD, Grüne und FDP haben vereinbart, dass die Abgeordneten in freier Abstimmung ohne übliche Fraktionsvorgaben beraten und entscheiden sollen. «Eine Impfpflicht ist kein Vorhaben der Koalition», stellte FDP-Chef Christian Lindner fest. Er und Scholz begründen die offene Debatte auch damit, dass dies einen befriedenden Konsens ermöglichen soll. Offenkundig gibt es in der Koalition aber auch keine gemeinsame Linie dazu. Die oppositionelle Union spießt das als mangelnde Führung auf und verlangt unverdrossen einen Gesetzentwurf der Regierung.
Was ist mit Impfpflicht genau gemeint?
Streng genommen geht es um eine Impfnachweis-Pflicht. Denn klar ist, dass niemand gegen seinen Willen und womöglich mit körperlichem Zwang zu Impfungen gedrängt werden kann. Vorbild könnte die erste begrenzte Pflicht sein, die schon besiegelt ist: Beschäftigte in Einrichtungen mit schutzbedürftigen Menschen wie Pflegeheimen und Kliniken müssen bis 15. März Nachweise über Impfschutz oder eine Genesung vorlegen – oder aber eine Arzt-Bescheinigung, dass sie nicht geimpft werden können. Und es wurden mehrere Monate Vorlauf eingeräumt, sich impfen zu lassen. Das dürfte bei der allgemeinen Pflicht auch so sein.
Wen betrifft eine Impfpflicht überhaupt?
Gut die Hälfte der Bundesbürger wäre wohl gar nicht selbst berührt: Mindestens 42,2 Millionen Menschen oder 50,8 Prozent aller Einwohner sind schon «geboostert». Sie haben also meist drei Spritzen bekommen und damit alle empfohlenen Impfungen. Viele zweifach Geimpfte dürften bald noch folgen. Unter den 69,4 Millionen Erwachsenen sind aber laut Robert Koch-Institut (RKI) noch 15 Prozent nicht geimpft – bei Menschen ab 60 mit größerem Corona-Risiko sind es 11,5 Prozent. Eine Quote von 100 Prozent wird es ohnehin nicht geben. Manche können sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen, für Kinder unter fünf Jahren gibt es keinen zugelassenen Impfstoff.
Welche Vorschläge gibt es schon?
Im Wesentlichen gibt es bisher drei Ansätze: Ein Entwurf für eine Pflicht ab 18 Jahre, die sich auch Scholz vorstellt, wird gerade von Parlamentariern aller drei Ampel-Fraktionen vorbereitet. Eine Gruppe um den FDP-Abgeordneten Andrew Ullmann konkretisierte einen Vorstoß für einen «Mittelweg»: Mit einem verpflichtenden, professionellen und persönlichen Beratungsgespräch für alle volljährigen Ungeimpften. Und wenn so nach gewisser Zeit die nötige Impfquote nicht erreicht wird, eine Pflicht zum Nachweis einer Impfung ab 50 Jahren. Eine Gruppe um FDP-Vize Wolfgang Kubicki will eine Impfpflicht generell verhindern.
Wie könnte eine Impfpflicht konkret aussehen?
Die Pflicht ab 18 soll nach Vorstellungen der Abgeordnetengruppe um SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese auf ein bis zwei Jahre befristet sein und für nicht mehr als drei Impfungen gelten. Sollte eine vierte Booster-Impfung etwa für Ältere oder Menschen mit Vorerkrankungen sinnvoll erscheinen, wäre sie freiwillig.
Wie soll das durchgesetzt werden?
Auf Maßnahmen wie Erzwingungshaft will die Abgeordneten-Gruppe um Wiese verzichten. Stattdessen sollen Impfverweigerer Bußgeld zahlen. Nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten haben Geldbußen eine Höhe von 5 bis 1000 Euro, «wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt». Sie könnten für die Impfpflicht also auch höher festgelegt werden. Janosch Dahmen von den Grünen, der Mitinitiator des Gruppenantrags ist, befürwortet einen Betrag im «mittleren dreistelligen Bereich». Zahlt man dann nicht, könnte laut Wiese ein individuelles Zwangsgeld in Betracht kommen, für das eine Obergrenze von 25.000 Euro gilt.
Wer kontrolliert das?
Die Umsetzung könnte über ein Register erfolgen, das für alle Bürger Impfungen erfasst. Nur: So etwas gibt es noch nicht. Der Aufbau würde Zeit kosten, zu regeln wäre auch der Datenschutz. Alternativ könnten Bürgerinnen und Bürger über Krankenkassen oder Kommunen, die die Meldedaten haben, zum Nachweis ihrer Impfung aufgefordert werden. Wenn gesundheitliche Gründe gegen eine Impfung sprechen, soll man von der Pflicht befreit werden. Die Atteste sollten Wiese zufolge aber nicht von den Hausärzten, sondern vom Amtsarzt ausgestellt werden.
Wie geht es weiter?
Zur Orientierungsdebatte liegen noch keine Gesetzentwürfe vor, das ist auch nicht unüblich. Wie zuletzt bei ethischen Fragen wie der Organspende können sich mehrere Dutzend Abgeordnete jeweils kurz zu Wort melden. Rund drei Stunden bis zum frühen Abend sind dafür eingeplant. Manchmal gibt es in solchen Debatten auch berührende Schilderungen aus dem persönlichen Leben. Die konkrete Ausformulierung der Anträge soll danach folgen, auch mit Hilfe der Ministerien. Organisiert werden könnte eine Expertenanhörung. Nach Angaben der SPD soll das Verfahren im März abgeschlossen werden. Mit Vorlauf greifen könnte die Nachweispflicht dann im Sommer.
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