24. November 2024

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Oft unterschätzt: Kopfschmerzen und Migräne

Jeder zweite Erwachsene leidet unter Kopfschmerzen. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Andrea Warnecke/dpa-tmn/dpa/Illustration)

Stechend oder drückend. Sporadisch, regelmäßig, manchmal überfallartig. Kopfschmerzen sind eine Volkskrankheit, von der rund 47 Millionen Erwachsene zumindest zeitweise geplagt werden.

Bei 25 Millionen Menschen handelt es sich um Spannungskopfschmerz, bei 18 Millionen Betroffenen um Migräne, wie Hartmut Göbel, Gründer und Chefarzt der renommierten Schmerzklinik Kiel sagt. Besonders stark beeinträchtigt eine chronische Migräne: Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung – also bundesweit 1,66 Millionen Menschen – leiden an mindestens 15 Tagen im Monat unter erheblichem Migräneschmerz, der den gesamten Körper in Mitleidenschaft ziehen kann.

Zum Europäischen Kopfschmerz- und Migränetag (12.9.) weisen Experten darauf hin, dass es beim Wissen über die Erkrankungen noch viel Luft nach oben gebe. «Migräne steht weltweit an zweiter Stelle der am meisten beeinträchtigenden Krankheiten», schildert Göbel. Sie trete vor allem zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr auf, bei Frauen zwei- bis dreimal häufiger als bei Männern. Aber auch bei Kindern und Jugendlichen komme sie zunehmend vor.

Arbeitsunfähigkeit

Migräne und chronische Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten Gründen für kurzfristige Arbeitsunfähigkeit, betont der Neurologe und Psychologe. Vor allem bei chronischer Migräne sei der Leidensdruck enorm. Und: «Arbeitsunfähigkeit durch Migräne allein kostet 3,1 Milliarden Euro pro Jahr in Deutschland.» Plus Produktivitätsverlust nichtbezahlter Arbeit – in Haushalt, Kindererziehung oder bei der Angehörigen-Pflege.

Schmerz führe zu Einschränkungen im Berufs- und Sozialleben, berichtet Charlie Gaul, Generalsekretär der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft. Den Betroffenen sieht man die Krankheit nicht an, sie ziehen sich bei Attacken zurück, oft ins abgedunkelte Zimmer. Viele sind extrem licht-, lärm- und geruchsempfindlich, sie kämpfen mit Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Kreislaufschwäche. Manche haben mit Störungen wie Lichtblitzen oder verschwommener Sicht – Aura – zu tun.

Druck zu «Funktionieren»

Die chronisch Betroffenen setzen sich oft unter Druck, erleben sich selbst als «unzuverlässig» und haben vor anstehenden wichtigen Ereignissen Angst vor der nächsten Attacke, weiß Neurologe Gaul. Der Leistungsdruck sei allgemein hoch, «Funktionieren» werde erwartet. Migräne sei aber weniger schambesetzt als noch vor 20 Jahren. «Betroffene machen die Erfahrung, dass sie auf mehr Verständnis treffen, wenn sie offen kommunizieren.» Allerdings sei dieser Zustand längst noch nicht überall erreicht.

«Das Wissen über die Natur und den Verlauf der Migräne ist im Alltag bei Nicht-Betroffenen gering», meint Göbel, der für seine Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Es kursierten viele Mythen über Migräne. Die Erkrankung sei in der sozialen Welt mit einem Makel verbunden. Zugleich haben Kopfschmerzen und Migräne – eine neurologische, genetisch verankerte Erkrankung – zugenommen. Dennoch: «Migräne ist unterdiagnostiziert und unterbehandelt.» Ein Problem auch, weil bei starker Migräne zusätzlich ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Herzinfarkt oder auch Schlaganfall besteht.

Botox als vorbeugendes Medikament

Medikamente könnten nicht heilen, aber helfen. Bei häufiger Migräne seien mehrere vorbeugende Medikamente sehr wirksam, erläutert Göbel. Darunter auch eine Gruppe von Medikamenten, die als Antikörper wirken. Bei chronischer Migräne sei seit 2010 vorbeugend Botox als Injektion zugelassen, was sich in Studien als «signifikant wirksam» erwiesen habe. Bei Mitteln gegen Akutschmerz – etwa den Triptanen – sollten weniger als zehn Tabletten im Monat eingenommen werden, sonst könne sogar Schmerz ausgelöst werden, mahnen Mediziner.

Bei Übergebrauch sei das Risiko groß, dass der Schmerz chronisch werde, warnt Schmerztherapeut Gaul. Ein Teufelskreis. Göbel zufolge leiden geschätzt drei Prozent der Bevölkerung an Kopfschmerzen als Folge von solchem Übergebrauch. Die Gesellschaft für Neurologie betont zudem: Oft bleiben nach Covid-19 noch länger Kopfschmerzen bestehen – auch dann sei der zu häufige Griff nach Schmerztabletten der falsche Weg.

Defizit im Medizinstudium

Bei Migräne sind Verhaltenstherapie, Entspannungsübungen und körperliche Aktivitäten wichtig, sagt DMKG-Sprecher Gaul. Es gebe individuell verschiedene Migräne-Auslöser – Trigger – wie Hormonschwankungen, einen gestörten Wach-Schlaf-Rhythmus, Wetterwechsel oder auch Stress mitsamt folgendem Stressabfall. «Alles zu Schnelle, alles zu Viele, alles zu Plötzliche, alles Impulsive kann Migräneattacken auslösen», ergänzt Göbel. Früher habe man bestimmte Nahrungsmittel wie Käse, Zitrusfrüchte oder Schokolade als Trigger verdächtigt. Es habe sich aber gezeigt, dass bereits der Hunger nach diesen Speisen Ankündigungssymptome einer Migräne seien.

Ein Defizit: Weltweit werden im Mittel während des sechsjährigen Medizinstudiums nur etwa zwei Stunden für Informationen über Kopfschmerzdiagnose und -behandlung angeboten, bedauert Göbel. Seit diesem Wintersemester gibt es aber erstmals in Deutschland einen berufsbegleitenden Masterstudiengang «Migräne und Kopfschmerzmedizin» – an der Uni Kiel und entwickelt mit Göbels Schmerzklinik.

Von Yuriko Wahl-Immel, dpa