Ist das Konstruktion oder kann das weg? Wenn Klaus Millerferli die Dämpferdome des neuen Mercedes EQXX in Händen hält, könnte man meinen, er hat sich vergriffen.
Denn das unförmige und unstrukturierte Metallteil sieht eher nach Abfalleimer aus als nach Avantgarde. Und dass sich daran die Vorderachse des elektrischen Technologieträges abstützen soll, mag man dem Projektleiter kaum glauben.
Doch Millerferli wiegt das Gussteil mit größter Wertschätzung in der Hand und freut sich am niedrigen Gewicht und der luftigen Form. Denn es ist nicht nur extrem stabil, sondern wiegt auch vier Kilo weniger als eine konventionelle Komponente.
Nach dem Vorbild der Natur kreiert – Skelette aus Carbon
«Dafür haben wir es nach dem Vorbild der Natur konstruiert», sagt der Ingenieur. Statt am Reißbrett mit der gleichen Software am Rechner entwickelt, mit denen die Monster für Computerspiele generiert werden – nicht gezeichnet, sondern förmlich gewachsen – sieht es deshalb aus wie ein Skelett.
Und genau wie die Knochen von Menschen oder Tieren sei das Strukturteil an den entscheidenden Stellen extrem stabil, brauche aber nirgendwo überschüssiges Material und sei deshalb besonders leicht.
Damit folgt Millerferli einem Trend, der bei den Autoentwicklern gerade hoch im Kurs steht. Im Ringen um ein möglichst niedriges Gewicht und eine maximale Reichweite lassen sie sich von der Natur inspirieren. Besonders augenfällig ist das beim Mission R, mit dem Porsche dem elektrischen Rennwagen der Zukunft Gestalt gibt.
Statt einen Rahmen zu konstruieren und den dann mit einer Karosserie zu verkleiden, trägt der Zweisitzer ein weithin sichtbares Skelett aus Carbon, dessen wie bei einem Fachwerk offenen Zwischenräume ganz ungewöhnliche Ein- und Ausblicke erlauben – besonders am Dach.
«Da kommen Form und Funktion auf perfekte Weise zusammen», sagt Designer Peter Varga. «Denn dieses sogenannte Exoskelett ist nicht nur besonders leicht und stabil, sondern sieht auch noch spektakulär aus.»
Schildkröte und der Schädel eines Dinosauriers
Diese Idee hatten vor Porsche schon andere: Beim Entwicklungsdienstleister Edag in Wiesbaden zum Beispiel gibt es den Technologieträger Genesis. Dessen Karosserie ist nach dem Vorbild eines Schildkrötenpanzers aus dem 3-D-Drucker gelaufen.
Oder etwa der sportliche Zweisitzer des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart. Damit der tatsächlich unter 500 Kilo bleibt und trotzdem hinreichend Unfallschutz bietet, musste der Schädel des Simosaurus als Vorbild für seine Karosseriestruktur herhalten.
Schließlich haben die Forscher ein paar interessante Parallelen gefunden: Bei der Jagd wurde der Knochen so beansprucht wie das Chassis bei der Fahrt über eine buckelige Piste. Und wenn der Kiefer beim Fressen zugeschnappt hat, wirkten ähnliche Kräfte wie bei einem Crash, erläutern die IPA-Experten.
Watschelig an Land und elegant am Wasser
Neben dem Leichtbau und der Sicherheit ist es vor allem die Aerodynamik, die sich von der Natur inspirieren lässt. «Denn was den Strömungswiderstand angeht, hat die Evolution schon ein paar sensationelle Formen hervorgebracht», sagt Teddy Woll, der bei Daimler über den Windkanal herrscht. Etwa den Pinguin.
An Land mag der langsam wirken und sein Gang ist weder effizient noch ästhetisch. «Doch im Wasser macht ihm keiner etwas vor», sagt Woll und könnte stundenlang von Vögeln und Fischen schwärmen. Kein Wunder also, dass manche Details unserer Autos an Flügel oder Flossen erinnern oder gleich die ganze Form einem Fisch nacheifert.
Allerdings gibt es da auch Grenzen, vor allem in Widerstreit zwischen Aerodynamik und Ästhetik, räumt Woll ein. Er erinnert an den Kofferfisch, der 2005 zum Vorbild für das Bionic-Car der Schwaben wurde. Der Fisch ist zwar besonders strömungsgünstig und das von ihm inspirierte Auto mit einem Cw-Wert von 0,19 ungeheuer effizient.
Aber schön geht anders. Obwohl perfekt geeignet für einen kompakten Van oder ein SUV, dürfte diese Form deshalb kaum den breiten Publikumsgeschmack treffen – und ist längst wieder in der Asservatenkammer der Designer verschwunden.
Lotusblüteneffekt für saubere Klos und Reifenflanken
Karosserierahmen wie ein Knochenskelett, gewachsene Strukturteile und Designlinien wie Fischkörper – so neu diese Ideen auch sein mögen, die Bionik ist ein alter Hut. Egal ob Auto, Luftfahrt oder Haushaltstechnik liefert die Natur schon seit Menschengedenken das Vorbild für praktische Errungenschaften.
Eines der populärsten Beispiele für den Transfer von der Natur in die Fabrik ist der sogenannte Lotusblüteneffekt, mit dem sich die Blätter der Pflanze gegen Schmutz gewappnet haben.
Das Prinzip der kleinen Noppen, die dafür verantwortlich sind, dass Wasser und damit auch Schmutzpartikel von der Oberfläche der Pflanze abperlen, konnten Forscher auch auf künstliche Oberflächen übertragen. Das sorgt etwa für stets saubere Waschbecken oder WC-Schüsseln. Eine Eigenschaft, mit der Lackhersteller bald auch die Autowaschanlage überflüssig machen und Reifenhersteller die Flanken ihrer Pneus sauber halten wollen.
Effizienter Haifisch als Vorbild für effizientere Autos
Aber es sind nicht nur Blüten, die Forscher inspirieren, sondern sogar Fischschuppen. So haben BMW-Forscher vor einigen Jahren die Haut des Hais unter die Lupe genommen. Spezielle Profile können den Reibungswiderstand um bis zu drei Prozent reduzieren.
Die Idee: Wenn man diese Profile auf eine Folie überträgt und diese aufs Blech klebt, könnte sich auch der Verbrauch entsprechend drücken lassen. Weiter verfolgt haben die Bayern diesen Gedanken dann allerdings nicht mehr.
Das ist nicht ungewöhnlich: Denn oft beißen sich bionische Ideale mit anderen Anforderungen ans Auto – seien es die Kosten, die Umsetzung in der Produktion oder schlicht der Geschmack: «Denn nicht alles, was uns die Bionik etwa beim Design vorgibt, würde den Konsumenten gefallen», sagt Mercedes-Aerodynamiker Woll und erzählt vom konstruktiven Dauerstreit mit den Designern.
Abgeschrieben ist die Bionik deshalb nicht. Im Gegenteil: Nicht immer können bestehende Entwicklungsansätze den vielfältigen Herausforderungen Rechnung tragen, denen die Automobilbranche derzeit gegenübersteht. Daher sucht man gezielt nach Lösungen in anderen Branchen, auch in der Bionik: «Die Bionik liefert interessante Inspirationen und Lösungsansätze», äußert sich etwa BMW-Sprecherin Julia Jung.
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