Deutschlands Gesundheitswesen hat einer Studie zufolge enormen Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung.
Eine am Dienstag veröffentlichte Untersuchung des Beratungsunternehmens McKinsey bezifferte das Einsparpotenzial durch digitale Anwendungen auf 42 Milliarden Euro pro Jahr und damit auf etwa zwölf Prozent der Gesundheits- und Versorgungskosten in Deutschland.
Es geht nicht nur um direkte Einsparungen, sondern auch um vermiedene Kosten und eine bessere Leistung. Werden zum Beispiel digitale Überwachungssysteme benutzt, kann eine Erkrankung früh erkannt werden – dadurch kommt es gar nicht erst zu einem teuren Krankenhaus-Aufenthalt.
«Richtig eingesetzt, kann die Digitalisierung im Gesundheitsbereich massiven Nutzen stiften», sagte McKinsey-Studienautor Stefan Biesdorf. Im Vergleich zu einer ähnlichen Untersuchung von 2018 ging es nur langsam voran. Immerhin gibt es positive Beispiele: So werden inzwischen deutlich mehr Termine online gebucht als früher, und das Praxispersonal hat mehr Zeit für andere Tätigkeiten. Eine weitere positive Entwicklung: Die Nachfrage nach Videosprechstunden mit dem Arzt stieg in Pandemiezeiten.
Biesdorf und Co-Autorin Kristin Tuot beschreiben ein weites Feld, auf dem Fortschritte möglich sind. Unter dem Begriff der «Patientenselbstbehandlung» sollten etwa psychisch Kranke stärker Zugang zu Online-Kursen bekommen, und Diabetes-Kranke sollten digitale Hilfsmittel intensiver nutzen.
Krankenhäuser «fahren Papier durchs Haus»
Außerdem sollte der Datenaustausch in Kliniken verbessert werden. Die noch immer weit verbreitete Zettelwirtschaft ist den Autoren ein Dorn im Auge. «In sehr vielen Krankenhäusern sind sehr viele Leute unterwegs und fahren einfach Papier durchs Haus», sagt Biesdorf. Und dass im Gesundheitswesen noch immer das Fax benutzt wird, quittiert er mit einem Kopfschütteln.
Den Nutzen der Digitalisierung stellen die beiden Fachleute an einem beispielhaften Patienten dar, der an Herzinsuffizienz leidet und aus dem Krankenhaus entlassen wird. Danach wird mit Technik unter anderem sein Gewicht überwacht. Die Daten werden an die Klinik übermittelt und dort ausgewertet. Wenn das Gewicht zunimmt, stimmt etwas nicht – «dann kann man zügig agieren und den Patienten ambulant einbestellen», sagt Biesdorf. Ohne die Technik müsste er später wohl nochmal stationär ins Krankenhaus.
Als vorteilhaft wertet Biesdorf auch sogenannte Symptom-Checker. Das sind Online-Tools, mit denen ein Verbraucher eine erste Einschätzung seines Gesundheitszustandes bekommt. Liegt keine ernsthafte Symptomatik vor, kann man sich den Weg in die Klinik-Notaufnahme sparen und warten, bis der Hausarzt wieder öffnet.
Viel Potenzial bei E-Rezept und elektronischer Paktientenakte
Die Digitalisierung in Deutschlands Gesundheitsbranche kommt insgesamt nur schleppend voran. Einerseits gibt es Datenschutz-Bedenken, andererseits fürchten Ärzte und Apotheker Anwendungsprobleme im Alltag. Die elektronische Patientenakte zum Beispiel ist zwar schon eingeführt, wird aber nur wenig genutzt. Ein weiteres digitales Mammutvorhaben ist das E-Rezept, das eigentlich im Januar zur Pflicht werden sollte. Doch nach Kritik aus der Gesundheitsbranche änderte die zuständige halbstaatliche Firma Gematik ihren Kurs und setzte eine freiwillige Testphase fort.
Sowohl in der elektronischen Patientenakte als auch im E-Rezept sehen die McKinsey-Fachleute großes Effizienzpotenzial – auch hier mahnen sie mehr Tempo an. In Österreich zum Beispiel sei das E-Rezept gut und recht schnell eingeführt worden, sagt Biesdorf.
Und was sagen Vertreter der Branche? Der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes, Ulrich Weigeldt, bestätigt, dass «grundsätzlich das Potenzial der Digitalisierung im Gesundheitswesen groß ist». Das sei aber keine neue Erkenntnis. «Inwiefern es Sinn macht, das Potenzial auf einzelne Anwendungen runterzubrechen und diese dann auch noch mit einem Preisschild zu versehen, steht auf einem anderen Blatt. Mit der Realität in der Versorgung haben solche Berechnungen wenig zu tun.»
Viele Vorschläge nicht praxistauglich?
Die Hausärzte seien zwar «froh über jede digitale Innovation, die die Versorgung der Patientinnen und Patienten verbessert und eine echte Entlastung in den Praxen darstellt». Weigeldt moniert aber, «dass die allermeisten Lösungen, die nach Vorgaben der Gematik bisher entwickelt wurden, nicht praxistauglich sind». So sei der Registrierungsprozess bei der elektronischen Patientenakte viel zu kompliziert. Eine Sprecherin der Gematik betont hingegen Fortschritte bei der Akte. Zudem gebe es Pläne zu einer anderen Herangehensweise, wodurch sich neue Chancen und Mehrwerte auftäten.
Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz bekommt beim Blick auf die Studie schlechte Laune. Er sieht darin Versäumnisse der verschiedenen Akteure des Gesundheitswesens, die zulasten der Patientinnen und Patienten gingen. Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte, Therapeuten, Pharmakonzerne, Heil- und Hilfsmittelunternehmen wollten sich «nicht in die Karten schauen lassen» und verdienten gut dabei. Das müsse aufhören. «Der Bundesgesundheitsminister ist aufgefordert, Leistungsanbieter auszuschließen, die sich nicht an der Digitalisierung beteiligen», sagt Brysch.
Mehr Nachrichten
Rodel, Ski, Helm: Gut ausgerüstet ins Wintervergnügen
Zusammen am Tisch: Wie gemeinsames Essen die Seele stärkt
Rodel, Ski, Helm: Gut ausgerüstet ins Wintervergnügen