Ein Campingplatz in Lügde, ein Einfamilienhaus in Bergisch Gladbach, eine Gartenlaube in Münster: Die Tatorte stehen für unermessliche Schmerzen, die Kindern zugefügt wurden – von Bezugspersonen wie dem Pflegevater, dem Vater, dem Stiefvater. Sexuelle Übergriffe auf Mädchen und Jungen bis hin zu Vergewaltigungen sind alltäglich in Deutschland, und häufig bleiben die Verbrechen jahrelang unentdeckt.
«Mich wundert das nicht», sagt Katja Gleisberg. «Viele Menschen schauen bei dem Tabuthema sexualisierte Gewalt lieber weg.» Die 42-Jährige aus Hameln hat selbst sexualisierte Gewalt in ihrer Kindheit erfahren und zeigte ihren Stiefvater im Jahr 2013 an – 20 Jahre nach dem Erlebten.
Jugendamt versagt
Der Täter wurde in einem Berufungsprozess 2017 vom Landgericht Münster zu einer Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt, wie Gleisberg erzählt. Sie selbst hat am Präventionskonzept gegen sexualisierte Gewalt mitgearbeitet, das der Landkreis Hameln-Pyrmont nach dem Versagen des Jugendamtes im Missbrauchsfall Lügde aufstellte.
Trotz Hinweisen auf sexuell übergriffiges Verhalten hatte die Behörde einem Campingplatzbewohner die Pflegschaft für ein kleines Mädchen übertragen. 2019 wurde der damals 56-Jährige zu 13 Jahren Gefängnis und anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.
Verbindlichkeit auf Bundesebene muss her
Ein wichtiger Baustein der Prävention ist aus Sicht der angehenden Sexualpädagogin die sexuelle Bildung. «Kinder müssen Worte haben und lernen, ohne Scham über den eigenen Körper zu sprechen», sagt Gleisberg. Nur dadurch seien Mädchen und Jungen in der Lage, zum Beispiel Grenzüberschreitungen benennen zu können, um sexualisierte Gewalt sichtbar zu machen.
Wer mit Kindern und Jugendlichen arbeite, müsse dringend für diese Themen sensibilisiert werden. «Leider gibt es dafür noch keine Verbindlichkeit auf Bundesebene. Kommunen entscheiden selber, welche Bildungsangebote etabliert werden», sagt die Mutter von zwei Kindern.
Neues Gesetz – reden allein reicht nicht
Am 1. Juli trat ein neues Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder in Deutschland in Kraft. Unter anderem wurden die Strafen verschärft, zudem ist es leichter, bei schweren Fällen Untersuchungshaft anzuordnen. Kinder sollen darüber hinaus in allen Kindschaftsverfahren vor Gericht persönlich angehört werden – also etwa wenn es darum geht, bei welchem Elternteil sie nach einer Trennung leben wollen.
Der Betroffenenrat beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) begrüßt das neue Gesetz, mahnt aber an, dass es auch mit Leben gefüllt werden müsse. So seien die Strafverfolgungsbehörden häufig personell unterbesetzt. Angela Marquardt gehört seit rund einem Jahr dem Gremium an, das aus 18 Ehrenamtlichen besteht.
Schweigen? – Aus Angst, was die Leute sagen
Die 49 Jahre alte SPD-Politikerin machte erst 2015 in ihrem Buch «Vater, Mutter, Stasi» die sexuellen Übergriffe ihres Stiefvaters öffentlich. «Das war wahrlich kein leichter Weg», sagt sie. «Viele Betroffene reden auch nicht darüber, weil sie das Stigma «Opfer» nicht haben wollen, gerade wenn sie erfolgreich im Beruf sind. Du hast immer Angst, dass die Leute denken, die ist psychisch nicht belastbar.»
Der Betroffenenrat plant im Herbst ein Dialoggespräch über den Tatort Familie – Marquardt zufolge der «Tatort, an dem es am meisten passiert». Eine Schlüsselfrage sei, wie der Schutz von Kindern in Familien sicherzustellen ist. Das Gremium will eine gesellschaftliche Debatte zu Schutzkonzepten in Familien anregen. Für Kirchen oder Sportvereine gibt es bereits solche Konzepte.
Wir dürfen nicht mehr wegsehen
«Die beste Prävention ist, dass nicht mehr weggesehen, nicht mehr ignoriert wird», sagt die frühere Bundestagsabgeordnete, die sich um den Platz im Betroffenenrat beworben hatte und für das Gremium ausgewählt wurde. Jeder Einzelne müsse die Angst vor etwaigen falschen Beschuldigungen überwinden und sich bei Verdachtsfällen einmischen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht für Deutschland von einer Million Mädchen und Jungen jedes Jahr aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Das sind pro Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder. Es gebe das Klischee, dass sexualisierte Gewalt vor allem in schwierigen Familienverhältnissen stattfindet, sagt Angela Marquardt. Das sei nicht so: «Diese Gewalt passiert in der berühmten heilen Welt.»
Mehr Misshandlung im Lockdown
Fachleute gehen davon aus, dass die Fallzahlen bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder – wie auch bei anderen Misshandlungsformen – während des Corona-Lockdowns zugenommen haben. In dieser Zeit seien Kontrollstrukturen weggefallen, sagt Miriam Rassenhofer vom Kompetenzzentrum Kinderschutz an der Universitätsklinik Ulm. Beratungsangebote und Hilfetelefone hätten mehr Anfragen erhalten. Betroffenen kann der Juniorprofessorin zufolge eine Traumatherapie helfen. «Man kann lernen, mit traumatischen Erfahrungen umzugehen und mit ihnen gut zu leben», sagt sie.
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