«Das ist neu!» – der kleine Junge im Hawaiihemd zeigt auf ein weißes Regal an der Küchenwand. Er plappert munter drauflos und erzählt von den Anschaffungen seiner Familie. Der fröhliche Fünfjährige ist sichtlich stolz auf sein schönes Zuhause.
Seine Welt ist ein Reihenhaus in Heidelberg, Küche und Wohnzimmer voll mit Basteleien, Kuscheltieren, Lego. Für ihn und seine vierjährige Schwester Lena ist das behütete Aufwachsen beim Ehepaar Karin und Roland Zimmermann (Namen von der Redaktion geändert) wie ein Sechser im Lotto.
«Das sind unsere Kinder», sagen die Eheleute, auch wenn noch Kontakt zur leiblichen Mutter besteht. So wie Jonas und Lena werden Tausende Kinder in Deutschland jährlich von ihren Eltern getrennt, etwa weil diese ihre Bedürfnisse über die der Kinder stellen.
Die meisten müssen sich mit einem Heimplatz begnügen. Bei Kindern über drei Jahren finden die Jugendämter keine Eltern mehr, die sich Vollzeitpflege zutrauen, sagt Katie Gackenheimer vom Jugendamt Heidelberg. Zu groß scheint vielen der Rucksack von Problemen, den ältere Kinder in die Familie bringen.
Pflegekinder kommen aus verschiedenen Schichten
Jonas und Lena gehören zu den 80 Kindern im diesem Jugendamtsbezirk und den bundesweit mehr als 91.000 Kindern und Jugendlichen, die dauerhaft bei ihren neuen Eltern leben, ohne dass diese die gesamte Verantwortung tragen. Nach Schätzungen des Bundesverbandes der Pflege- und Adoptivfamilien gibt es ungefähr 57.000 Pflegefamilien, durchschnittlich leben in ihnen demnach 1,61 Pflegekinder. 2009 waren es knapp 70.000 Pflegekinder.
Die häufigsten Gründe für eine Fremdbetreuung sind unzureichende Förderung und Versorgung, Gefährdung des Kindeswohls – also etwa körperliche, psychische, sexuelle Gewalt in der Familie – sowie eingeschränkte Erziehungskompetenz.
Vernachlässigung von Kindern komme in allen Schichten vor, sagt der stellvertretende Jugendamtsleiter Günter Wottke: «Wir beobachten, dass sich das Phänomen quasi weitervererbt, zu einem Mangel an Zuwendung kommt es insbesondere dann, wenn die Eltern in der eigenen Kindheit Kränkungen und emotionale Defizite erlebt haben.»
Mangel an Pflegefamilien besonders in Großstädten groß
Bundesweit haben Großstädte und Ballungsräume wie Heidelberg/Mannheim generell Schwierigkeiten, Pflegefamilien zu gewinnen. Die zuständige Sprecherin der Stadt Mannheim, Beate Klehr-Merkl, sagt: «Bei Pflegefamilien muss Platz und Zeit für die Begleitung der Kinder vorhanden sein.» Doch in der Stadt sei der Wohnraum oft teuer und der Anteil der Berufstätigkeit höher.
In Mannheim werden gerade solche Familien gesucht, die Kinder bis zu sechs Jahren vorübergehend einen sicheren Hafen bieten. Aktuell übernehmen 17 Mütter die sogenannte Bereitschaftspflege – fast doppelt so viele werden aber gebraucht.
Auch nach Angaben des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes sind immer weniger Menschen bereit, die Herausforderung einer Pflege fremder Kinder anzunehmen. «Dabei ist das Modell der Vollzeitpflege insbesondere für junge Kinder tendenziell am günstigen, weil sie dort dauerhafte Bindungen aufbauen können», sagt die Verbandsreferentin für Kinder- und Jugendhilfe Juliane Meinhold: «Die Jugendämter müssten diese Möglichkeit mehr publik machen, vorausgesetzt sie haben genügend Kapazitäten, um die Pflegeeltern dauerhaft zu unterstützen.»
Eingewöhnung in der Familie läuft oft nicht reibungslos
Jonas und Lena hatten vergleichsweise gute Voraussetzungen. Der Junge kam neun Monate nach seiner Geburt zu den Zimmermanns, Lena nach einigen Wochen. «Wir hatten sofort das Gefühl, das passt», sagt das Paar, das ursprünglich eine Adoption anstrebte und erst durch das Jugendamt von der Möglichkeit einer Vollzeitpflege hörte. Trotzdem war der Übergang nicht reibungslos. Jonas war motorisch noch auf dem Stand eines drei Monate alten Babys, auch heute beobachten die Eltern noch Entwicklungsverzögerungen etwa beim Klettern.
«Manchmal war es heftig – und das ist es oft noch immer«, erzählt Roland Zimmermann. Die Kinder pendeln zwischen Autonomiestreben und übermäßiger Anhänglichkeit. Die Tendenz zur Selbstständigkeit entwickle sich schon sehr früh, wenn die Kinder merkten, dass niemand außer ihnen selbst für sie sorgen wird. Andererseits klammern die beiden.
«Jonas kann kaum im ersten Stock allein spielen, ohne sich ständig meiner Gegenwart zu versichern», hat die 49-jährige Karin Zimmermann beobachtet, die für die Kinder drei Jahre zu Hause blieb und heute auch nur acht Stunden in der Woche an einem Gymnasium unterrichtet. «Die Kinder sagen sehr deutlich: Gib mir Liebe, ich möchte, dass du für mich da bist.»
Das Paar hat auch die selbst erlebten Erziehungsmuster hinterfragt, bei Karin Zimmermann die autoritäre Erziehung, bei ihrem zwei Jahre jüngeren Mann die Einflussnahme über das schlechte Gewissen des Kindes. Sie haben das Wort Erziehung aus ihrem Vokabular gestrichen. «Für uns gib es nur die Beziehung, wir wollen die Kinder auf ihrem Weg begleiten.»
Potentiellen Pflegeeltern wird auf den Zahn gefühlt
Wer eignet sich als Pflegeeltern? Unerschrocken, lebensbejahend, offen, vorurteilslos müssen sie sein, sagt Gackenheimer. Nach einer ersten allgemeinen Beratung wird den Bewerbern auf den Zahn gefühlt: Sie müssen ihre Lebensgeschichte aufschreiben, ihre Stärken und Schwächen benennen, ihren Umgang mit Konflikten offenlegen.
Geld ist kaum ein Motiv. Nur einmal in 30 Jahren sei auf die Dienste einer Bereitschaftspflegefamilie verzichtet worden, weil sie nicht mehr mit dem Herzen dabei gewesen sei, sagt Gackenheimer. In Heidelberg wird ähnlich wie in den meisten anderen Kommunen für Kinder bis sechs Jahre 853 Euro monatlich gezahlt, für die älteste Gruppe sind es 1004 Euro.
Die Kooperation zwischen Jugendamt und Pflegeeltern ist nicht immer reibungslos, das zeigen Prozesse um zu spätes Eingreifen von Jugendämtern trotz Gefahren-Hinweisen. Sie tragen zu einem Vertrauensverlust in die Behörden bei. Die Zimmermanns schätzen das Heidelberger Jugendamt hingegen sehr. Roland Zimmermann findet: «Die Angst kinderloser Paaren wie wir gegenüber dem Jugendamt ist so schade, weil da noch so unendlich viele Kinder sind, die einen guten Start ins Leben brauchen.» Beide werben für das Modell: «Es ist eine wahre Freude, wenn das Päckchen, das unsere Kinder mitbringen, kleiner wird, das macht die Kinder stolz – und uns auch.»
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