21. November 2024

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Vom Notarzt zum Nofall: Wie Organspende Leben rettet

Der Berliner Notarzt Wolfgang Wachs lebt mit einer transplantierten Lunge. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Wolfgang Kumm/dpa)

«Ich könnte seit drei Jahren tot sein.» Dieser Satz schießt Wolfgang Wachs manchmal durch den Kopf. In schönen Momenten, aber auch, wenn er an sein früheres Leben denkt. Vorbei.

Wachs war Notarzt aus Leidenschaft. Am liebsten würde er sofort wieder in einen gelben Rettungshubschrauber steigen. Doch mit Ende 50 brauchte er eine neue Lunge.

Am 5. Juni ist Tag der Organspende. Es ist der Tag für fast 9000 Menschen in Deutschland, die zur Zeit auf ein Organ warten. Für rund jeden Zehnten unter ihnen wird es wahrscheinlich zu spät sein, bevor sich eine Chance ergibt. Chance heißt fast immer, dass jemand gestorben ist. Es ist auch der Tag all jener Menschen, die ermöglicht haben, dass andere weiterleben.

Wolfgang Wachs erkrankt an Lungenfibrose

Bei Wolfgang Wachs war es mehr als knapp. Als er sein Holzhaus nahe Potsdam im Winter 2018 verließ, wusste er nicht, ob er zurückkehren würde. Ob er noch einmal auf seiner Gartenterrasse mit der Leuchttafel «Notaufnahme» sitzen würde, ein Scherz aus besseren Tagen. Oder im Zimmer mit der Ahnengalerie, vom Ur-Urgroßvater an, alle waren sie Mediziner. Doch das hilft nicht bei Lungenfibrose, einer Erkrankung, die zum Erstickungstod führt.

In der Berliner Charité mit Beatmungstechnik wartete Wachs, Woche um Woche, todkrank. Ende Januar 2018 gab es Hektik auf der Station: «Wir haben eine Lunge.» Wolfgang Wachs erinnert sich, wie euphorisch er war in jener Nacht. Der OP vorbereitet, Kollegen hielten die Daumen hoch. Doch dann passierte – nichts. Schließlich sagte der Chirurg: «Wir können dieses Organ nicht transplantieren. Es ist zu schlecht.»

913 Organspender im vergangenem Jahr

In Deutschland sind 2020 mehr als 700 Menschen gestorben, denen mit einer Organspende hätte geholfen werden können. Es gab aber nicht genug Organe. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) ist dennoch froh, dass die Pandemie die Organspende in Deutschland nicht noch weiter ans Limit gebracht hat. Trotz der zeitweisen Überlastung der Intensivstationen haben nach den DSO-Zahlen im vergangenen Jahr 913 Menschen nach ihrem Tod ein oder mehrere Organe gespendet. Das entspricht 11 Spendern pro einer Million Einwohner, fast genauso vielen wie 2019. Noch zwei Jahre zuvor lag der Wert bei 9,7. Das hing wohl auch mit dem deutschen Organspendeskandal zusammen. An mehreren Kliniken waren 2012 Manipulationen an Krankenakten aufgedeckt worden. Ärzte hatten ihre Patienten auf dem Papier kränker gemacht als sie waren, damit sie auf den Wartelisten für Organe weiter nach oben rückten.

Mit der Aufarbeitung des Skandals fiel mehr Licht auf ein Dilemma: Weniger als ein Prozent der Sterbenden in Deutschland kommen überhaupt für eine Organspende in Frage. Und von ihnen hat nur ein Bruchteil einen Ausweis. Eine Befragung im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zeigt, dass immer mehr Menschen ihre Entscheidung über eine Organ- und Gewebespende nach dem Tod schriftlich festhalten. 44 Prozent der Befragten gaben demnach 2020 an, ihre Entscheidung dokumentiert zu haben – in einem Organspendeausweis, einer Patientenverfügung und beiden Dokumenten. Im Jahr 2012 habe der entsprechende Anteil noch bei 26 Prozent gelegen, erklärte die Bundeszentrale.

In Deutschland gilt weiterhin Zustimmungslösung

Noch immer aber sind es zu wenige Bundesbürger, die ihren Willen zur Organspende dokumentieren. Das bleibt die Krux der Zustimmungslösung, die der Bundestag vor zwei Jahren erneut festgeschrieben hat. Im März 2022 soll als weiterer Baustein das Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft in Kraft treten. Dann sollen zum Beispiel auch Hausärzte und Fahrschulen das Thema Organspende aktiv ansprechen. Es soll ein Online-Register geben, in das jeder seinen Willen eintragen oder auch wieder ändern kann. Jeder könne von einen Tag auf den anderen ein Spenderorgan benötigen, sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). «Ich finde, allein aus dieser Erkenntnis heraus gibt es auch zumindest so etwas wie eine moralische Verpflichtung, sich mit der Frage zu beschäftigen.»

Wolfgang Wachs hat im Februar 2018 im zweiten Anlauf eine neue Lunge bekommen. Ein Jahr später machte er als Arzt eine Fortbildung zum Transplantationsbeauftragten. «Es war der Wunsch, für mein Geschenk eine Art Dank an die Gesellschaft zurückzugeben.»

Berichtspflicht für Entnahmekliniken

Transplantationsbeauftragte sind Mediziner, die mit dem Start eines neuen Gesetzes 2019 in Kliniken mit Intensivbetten freigestellt werden sollen. Ihre Aufgabe ist es, mögliche Organspender zu erkennen sowie Abläufe festzulegen und zu begleiten. In Deutschland hat das vorher nicht immer gut funktioniert. Nur die Hälfte der damals bundesweit rund 1300 Entnahmekliniken, die von den Bundesländern bestimmt werden, meldeten sich bei der DSO. Nun gibt es eine Berichtspflicht dieser Kliniken. Sie müssen dokumentieren, warum ein Gestorbener nicht für eine Organspende in Betracht kam und zum Beispiel keine Hirntoddiagnostik gemacht wurde.

Seitdem stieg die Zahl der Organspender bis März 2020 in Deutschland überdurchschnittlich an. Dann kam die Pandemie. Die Zahlen gingen wieder zurück. Insgesamt blieben sie im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, deren Intensivmedizin durch die Corona-Wellen noch weit mehr beansprucht wurde, aber stabil.

Lungentransplantierter Wachs musste Arbeit aufgeben

Wolfgang Wachs war enttäuscht, als er auf seine ersten Bewerbungen als Transplantationsbeaufragter keine Antworten erhielt. Dann war in der Pandemie schnell klar, dass ein Lungentransplantierter nicht mehr in einer Klinik arbeiten kann. Inzwischen ist er zweimal gegen Corona geimpft. Doch Hoffnung, wieder als Mediziner arbeiten zu können, hat er mit 63 Jahren wenig. «Meine Arbeit fehlt mir sehr», sagt er.

Wachs hat einen Brief geschrieben. Wohl den schwierigsten seines Lebens, sagt er. Er schrieb an Menschen, die er nicht kennen kann, die Familie «seines» Spenders. Die DSO hat diesen Brief weitergeleitet, Namen oder Adresse erfahren Transplantierte nicht. Angehörige von Organspendern können antworten. Bei Wolfgang Wachs haben sie geschwiegen. «Das muss ich akzeptieren», sagt er.

Von Ulrike von Leszczynski, dpa