«Ihr Kind hat Diabetes.» Das ist eine Schocknachricht für Eltern. «Viele sehen die Zukunftspläne einstürzen, eine lebenslange Krankheit, massive Einschränkungen im Alltag, ein chronisch krankes Kind», sagt der Tübinger Kinderdiabetologe Prof. Andreas Neu.
Aber nach dem ersten Schock geht der Blick irgendwann nach vorn: «Die allermeisten Familien haben nach etwa einem halben Jahr gelernt, damit umzugehen, und zwar nicht nur technisch: Blutzucker messen, Insulin geben, für Notsituationen gewappnet sein», erzählt Neu. «Sie haben dann auch gelernt: Das Leben endet nicht mit der Diagnose.»
Schätzungen zufolge erkranken jährlich rund 3000 Kinder in Deutschland an Typ-1-Diabetes, insgesamt haben hierzulande mehr als 30.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren die Stoffwechselkrankheit.
Keine Vorbeugung möglich
Im Gegensatz zum Typ-2-Diabetes, bei dem Bewegungsmangel, falsche Ernährung und Übergewicht zu den Risikofaktoren zählen, spielt hier der Lebensstil keine Rolle – es ist eine Autoimmunreaktion, die den Typ-1-Diabetes auslöst. Vorbeugung ist nicht möglich.
Was genau zum Ausbruch führt, ist Gegenstand der Forschung. Klare Antworten gibt es nicht. Genetische Voraussetzungen trügen einen kleinen Teil dazu bei, sagt Andreas Neu. «Außerdem sind da Trigger-Faktoren, die wir im Detail nicht kennen, die den Autoimmunprozess auslösen können.»
Fakt ist: Ändern am Ausbruch kann niemand etwas. «Am Anfang beschäftigen sich die Eltern oft mit der Frage der Schuld: Was haben wir falsch gemacht, was hätten wir tun können?», sagt der Vizepräsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Doch sie haben nichts falsch gemacht.
Wichtig ist aber, die möglichen Symptome eines Typ-1-Diabetes zu kennen: ständiger Durst, häufiges Wasserlassen, Gewichtsabnahme und ständige Müdigkeit. Bleibt der Diabetes zu lange unentdeckt, kann es zu einer möglicherweise lebensgefährlichen Stoffwechselentgleisung kommen.
Veraltete Ansichten führen zu Problemen
Marlies Neese engagiert sich seit Jahrzehnten für Kinder mit Diabetes und deren Eltern. Und sie leistet Aufklärung an Schulen und Kitas. «Da ist noch enormer Bedarf», sagt Neese. Es gibt aus ihrer Erfahrung immer wieder veraltete Ansichten zum insulinpflichtigen Diabetes bei den Lehrern und Erziehern, die es dem Kind schwer machten, einen normalen und möglichst unbeschwerten Schul- oder Kita-Alltag zu erleben.
Zwei Dinge sind aus Neeses Sicht wichtig: Die Lehrer und Erzieher des Kindes müssten über ein gewisses Grundwissen zum insulinpflichtigen Diabetes verfügen. Dazu zählt, eine gefährliche Unterzuckerung zu erkennen und zu wissen, was vor und während Sport, bei Klassenfahrten und sonstigen außergewöhnlichen Aktivitäten zu tun ist.
Sie müssten auch verstehen, so Neese, dass das Kind manchmal während des Unterrichts essen, Insulin abgeben und Blutzucker messen müsse. Generell sollte man das Kind als «normal» ansehen und da, wo es nötig ist, Hilfestellung geben – das wäre der Idealfall für eine gelungene Integration, sagt Neese.
Defizite bei der Schulung des Umfelds
Andreas Neu sieht in der Schulung des Umfelds große Defizite: «Es nützt nichts, wenn ich die Eltern schule, aber das Kind ganztägig in der Kita oder Schule ist oder beim Training. Diese Betreuer der zweiten Reihe müssen auch geschult werden, und das ist in keinem Budget vorgesehen.»
Die Langzeitbetreuung der Familien durch die Mediziner beinhaltet wiederum regelmäßige Schulungen. Sie beschränkten sich nicht nur auf den Umgang mit Insulin, sondern seien vielfältig, sagt Neu. «Je nach Alter ändern sich die Themen.» Zum Beispiel, wenn Schulausflüge dazu kommen, in der Jugend erste Erfahrungen mit Alkohol und Sexualität gemacht werden, oder am Ende der Schulzeit die Frage nach dem Führerschein im Raum steht.
Marlies Neese wird nicht müde, für mehr Akzeptanz und Aufklärung zu kämpfen. Sie ist Vorsitzende des Vereins für Kinder und Jugendliche bei Diabetes mellitus, berät Kinder, Eltern, Kitas, Schulen, Krankenkassen und andere Institutionen.
Ihr Antrieb kommt aus der eigenen Erfahrung. Als ihre Tochter neun Jahre alt war, wurde bei ihr Diabetes Typ 1 diagnostiziert. «Ich war stock und steif, ich habe da erst mal nichts mitbekommen», sagt Neese und erzählt: «Damals wie heute heißt es oft in der Schule: «Das betroffene Kind muss in eine Förderschule.»» Oder, dass eine Aufnahme nur mit einer Integrationskraft erfolgt.» Integration sehe anders aus.
Die wichtige Rolle der Eltern
Es zeigt sich der Expertin zufolge immer wieder, dass die Eltern eine zentrale Rolle einnehmen. Je besser diese geschult und dadurch in der Lage sind, sich mit dem Diabetes auseinanderzusetzen und diesen zu verstehen, umso besser könnten sie in Kita oder Schule für ihr Kind einstehen.
Der Einfluss der Eltern hängt auch vom Alter des Kindes ab, wie Diabetologe Neu sagt. Vor allem Ältere könnten durch die Diagnose in ein Loch fallen, während betroffene Kinder im Kita- und Grundschulalter oft relativ schnell und problemlos zu ihrer Tagesordnung übergingen und die Erkrankung darin integrierten, so der Experte.
Neuerkrankungsrate in 25 Jahren verdoppelt
Ein Typ-1-Diabetes kann bei Kindern jeden Alters auftreten. Und es gibt eine Verschiebung, so Neu: «In den vergangenen zehn Jahren haben wir erlebt, dass sich das Erkrankungsalter immer mehr zum jüngeren Alter entwickelt.»
Der Trend ist beunruhigend: «Die Neuerkrankungsrate hat sich in den vergangenen 25 Jahren verdoppelt, es gibt keine andere chronische Erkrankung im Kinder- und Jugendalter, die derart fortschreitet», sagt Neu. Beim Warum stochern die Forscher noch im Nebel. Als mögliche Erklärungsansätze im Raum stehen zum Beispiel Umwelteinflüsse oder Änderungen bei der Säuglingsnahrung.
Symptome erkennen und Entgleisung verhindern
Das Erkennen eines Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen basiert auf dem Wahrnehmen simpler Symptome – Leistungseinbruch, häufiges Trinken und Wasserlassen, Gewichtsabnahme zählen dazu. Wenn solche Zeichen vorliegen, sollte eine rasche Diagnostik erfolgen, rät der Kinderdiabetologe Prof. Andreas Neu.
«Der Kinderarzt misst Blutzucker oder Urinzucker. Das ist innerhalb von wenigen Minuten gemacht und damit wird die Diagnose gestellt», so Neu. Danach setzten spezialisierte Medizinerinnen und Mediziner wie Neu die Behandlung und Therapie fort.
Bei jedem fünftem betroffenem Kind werden diese Symptome nicht erkannt, schätzt der Mediziner. «Weil die Bevölkerung nicht gut aufgeklärt ist, weil die Symptome nicht alarmierend sind. Niemand blutet, niemand hat Schmerzen, niemand ist schwer krank.» Dabei sollten in so einem Fall die Alarmglocken schrillen – bei Eltern, bei Erziehern, bei Lehrern, bei allen, die mit dem Kind zu tun haben.
Unerkannt kann der Diabetes zu einer Stoffwechselentgleisung führen, die schlimmstenfalls lebensbedrohlich ist. Sie zeigt sich durch Kopfweh, Übelkeit, Erbrechen und im Extremfall ein diabetisches Koma, also eine Ohnmacht. «Die Kinder können zum Teil nicht mehr gehen und stehen und sind in der Wahrnehmung eingeschränkt», sagt Neu.
Sie erlebten dadurch die Diagnosestellung weitaus dramatischer als Kinder, bei denen die Symptome rechtzeitig erkannt werden, und sind dadurch mitunter traumatisiert.
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