Wenn Florian Buschmann früher aufstand, zog er die Rollos ein Stück nach unten. Für das, was er vorhatte, brauchte er kein Tageslicht. Er spielte Computer. Strategiespiele, Browserspiele, Egoshooter – bis zu 16 Stunden täglich hockte der Schüler vor dem Bildschirm.
Er aß ungesund, meldete sich oft krank, seine Noten wurden schlechter. Freunde, Hobbys – überhaupt die echte Welt – verloren für ihn an Bedeutung.
Heute ist Buschmann 21 Jahre alt. Er wohnt in Dresden, studiert Psychologie, führt eine eigene Firma – und hat ein Buch über Computerspielsucht geschrieben. Es heißt «Ade Avatar. Schritte in die Freiheit». Über seine Vergangenheit, darüber, wie tief er selbst durch das Zocken gefallen war, kann er offen reden. «Ich hatte mich selbst verloren, mein Inneres war komplett leer. Da war keine Freude mehr, keine Trauer, nur noch eine Taubheit.»
Zahl der Minderjährigen mit Computerspielsucht stark gestiegen
Was Buschmann erlebt hat, scheint für immer mehr Jugendliche zum Problem zu werden. Laut einer neuen Studie ist die Zahl der Minderjährigen mit Computerspielsucht während der Corona-Pandemie deutlich gestiegen. Seit 2019 habe sich der Anteil der betroffenen Jugendlichen von 2,7 Prozent auf 6,3 Prozent im vergangenen Jahr erhöht, heißt es in einer gemeinsamen Untersuchung der Krankenkasse DAK und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.
Buschmann erzählt, dass er als Kind vor allem von der Fußballsimulation Fifa begeistert war. Anfangs sei das harmlos gewesen. «Aber dann kamen Lebensprobleme dazu», sagt er. Seine Eltern trennten sich, sein Opa starb, und weil Florian Buschmann nicht wusste, wie er damit umgehen sollte, zog er sich immer mehr in die Online-Spielewelt zurück. «Ich habe mich sozial komplett isoliert», erzählt er. Was seine Eltern dazu sagten, sei ihm egal gewesen.
Gestörtes Verhalten nicht immer reines Erziehungsproblem
Mitunter wird das exzessive Computerspielen bei Kindern vor allem als Erziehungsproblem gedeutet – als Mangel an Grenzen und Regeln. Forscher warnen jedoch vor einer einseitigen Sichtweise. «Natürlich ist Medienerziehung in Familien wichtig», sagt Kai Müller, Chef des Fachverbands Medienabhängigkeit und Leiter des Bereichs Forschung und Diagnostik an der Ambulanz für Spielsucht in Mainz.
Dennoch lasse sich das gestörte Verhalten nicht immer auf ein reines Erziehungsproblem reduzieren. Jugendliche könnten beim Computerspielen durchaus Suchtsymptome zeigen, sagt Müller.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bislang zwar nicht die Mediensucht, aber immerhin das krankhafte Computerspielen (gaming disorder) in den Katalog anerkannter Diagnosen aufgenommen. Laut Müller könnten auch andere Verhaltensweisen als Abhängigkeiten gezählt werden, wie etwa Online-Kaufsucht oder suchtartiges Nutzen von sozialen Medien und Internetpornos.
Oft kommen Depressionen oder Angststörungen hinzu
Während es eher Mädchen seien, die den sozialen Medien verfallen, tendierten vor allem junge Männer zur Computerspielsucht. Oft lägen zusätzliche Diagnosen wie Depressionen oder Angststörungen vor.
Müller zufolge erleben Menschen mit Computerspielsucht einen Kontrollverlust. Sie können demnach nicht mehr frei darüber entscheiden, ob und wann sie konsumieren. «Das Spielen wird der Fixpunkt in der Lebensgestaltung, nicht nur ein Bestandteil.» Mehr noch: «Obwohl die Betroffenen die negativen Konsequenzen des Verhaltens erleben, wird am Verhalten nichts geändert.»
Buschmann kann das bestätigen. «Ich hatte die Freiheit, «Nein» zu sagen, verloren.» Etwa drei Jahre lang sei er süchtig gewesen. Als er 15 oder 16 war, nahm er dennoch an einem Schüleraustausch in Rumänien teil. Er ging wandern und klettern, saß mit echten Menschen am Lagerfeuer. «Ich habe gesehen, was alles möglich ist.» Es habe dann aber noch eine Weile gedauert, bis er wirklich aufwachte.
Positive Gefühle in der echte Welt holen
Irgendwann nahm er sich vor, 30 Tage aufs Computerspielen zu verzichten. Er hielt durch. Buschmann ging joggen, machte Kraftsport. «Ich habe mir positive Gefühle in der echten Welt geholt statt in der Online-Welt». Eine Therapie sei nicht nötig gewesen, psychologische Beratung und Coaching aber schon. «Das war ein Prozess über Jahre.»
In seinem Buch beschreibt Buschmann weitere Methoden, die Betroffenen und Angehörigen helfen sollen. Müller, der Wissenschaftler aus Mainz, hat das Vorwort dazu geschrieben. Buschmanns Firma «Offline-Helden» hat heute sechs Mitarbeiter, die unter anderem in Schulen gehen, um Kinder über die Gefahren moderner Medien aufzuklären. Für seine Arbeit braucht Buschmann noch immer einen Computer. Zocken komme aber nicht mehr infrage, sagt er. «Da hab ich gar keine Lust drauf.»
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