Wie schön wäre es, wenn sich alle Ereignisse im Leben auf eindeutige Ursachen zurückführen ließen. Und wenn man umgekehrt zu jeder Ursache ein Ereignis genau vorhersagen könnte.
Was im Alltag schon schwierig ist, lässt bei Forschern erst recht die Köpfe rauchen – vor allem, wenn es um ganze Volkswirtschaften geht. Die in den USA lehrenden Ökonomen David Card, Joshua Angrist und Guido Imbens erhalten für ihre Arbeiten zur Verbesserung der nötigen Methoden den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Das gab die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften am Montag bekannt.
Wie reagiert der Arbeitsmarkt auf Zuwanderung? Welche Faktoren im Bildungssystem begünstigen den beruflichen Erfolg? Und nicht zuletzt: Hat ein gesetzlicher Mindestlohn Vorteile nicht nur für Arbeitnehmer, sondern für die gesamte Ökonomie? Oder schadet er eher, weil er die Arbeitskosten von Firmen erhöht? Die drei Ausgezeichneten befassten sich mit solchen Fragen – aber besonders mit dem handwerklichen Rüstzeug, das solidere Aussagen über Wenn-dann-Vermutungen zulässt.
Speziell über den Mindestlohn läuft seit den 90er Jahren eine heftige Debatte unter Wirtschaftswissenschaftlern wie -politikern. Auch in den Sondierungen zur Bildung einer neuen Bundesregierung ist er ein zentraler Punkt. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz versprach im Wahlkampf, den Mindestlohn ab 2022 auf 12 Euro pro Stunde anzuheben – für die Sozialdemokraten eine bisher unverrückbare Koalitionsbedingung.
Card, Professor an der US-Universität Berkeley, erhält eine Hälfte des diesjährigen Preises. Der gebürtige Kanadier spürte den Auswirkungen festgelegter Lohnuntergrenzen auf den Arbeitsmarkt nach. Führt die Erhöhung eines Mindestlohns wirklich in der Regel dazu, dass Beschäftigung insgesamt sinkt und Arbeitslosigkeit steigt, wie dessen Gegner behaupten? Card und andere bezweifelten das – nicht nur in der akademischen Welt ein zeitweise brisanter Standpunkt.
Auch Angrist und Imbens – sie teilen sich die zweite Preishälfte – tauchten tief in die Grundlagenforschung ein. Lassen sich reine Experimente wie in den Naturwissenschaften auf Sozialwissenschaften wie die Ökonomie anwenden? Und kann man so aussagekräftigere Daten gewinnen, die mehr als vermeintlich sichere Ja/Nein-Aussagen bringen?
In der Physik oder Chemie nutzt man das natürliche Experiment. Dabei wird nur die Experimentalgruppe dem Reiz (Ursache) ausgesetzt, alles Übrige bleibt konstant. In der Medizin ist das schon schwieriger: Wie erreicht man, dass die Einteilung der Gruppen in Wirkstoff und Placebo vom «natürlichen» Zufall abhängt? Bei Wirtschaftssystemen ist es noch mal um ein Vielfaches komplexer. Die Zahl der denkbaren Störeinflüsse ist groß, das soziale Experiment außerdem oft ethisch heikel.
Das Komitee würdigte Cards «empirische Beiträge zur Arbeitsökonomie». Er habe gezeigt, dass sich das natürliche Experiment dort als eine Art Annäherung an das naturwissenschaftliche Vorgehen umsetzen lässt. So habe Card mit das entscheidende Instrumentarium für eine Analyse geliefert, die verschiedene Lohnhöhen in Fast-Food-Ketten in den US-Bundesstaaten New Jersey und Pennsylvania mit der Lage auf dem Arbeitsmarkt in Beziehung setzten. Ergebnis: Ein klarer Nachweis der Hypothese «höherer Mindestlohn verursacht Jobabbau», wie dies für New Jersey nach einer Lohnerhöhung erwartet wurde, war nicht möglich.
Eine Korrelation – also ein bloßer Zusammenhang – mag existieren. Aber ob es eine Beeinflussung des einen durch das andere gibt, hängt oft von weiteren Faktoren ab. «Die Forscher schlossen, dass die Erhöhung des Mindestlohns nicht zu einer Abnahme der Beschäftigung führte», so das Stockholmer Komitee. «Heute wissen wir, dass die Erklärung teilweise auch im Verhalten der Unternehmen liegt.»
Solche Resultate können in der Ökonomie durchaus Aufsehen erregen. Sie schwächen jedenfalls jahrzehntealte Argumente der sogenannten neoklassisch-neoliberalen Denkschule ab, die volle Flexibilität von Löhnen und Preisen ohne staatliche Eingriffe empfiehlt. «Vielleicht», so deutete das Stockholmer Komitee an, «führt auch umgekehrt niedrige Beschäftigung zu höheren Mindestlöhnen». Möglicherweise, um fehlende Arbeitskräfte mit besseren Verdienstmöglichkeiten anzulocken?
Card selbst sagte am Montag zu den Erkenntnissen aus dieser Studie: «Ich denke, dass das Wichtigste, was dabei herauskam, ist – entgegen dem, was alle denken, nicht, dass wir unbedingt den Mindestlohn erhöhen sollten, sondern eher der Fokus auf ein anderes Denken darüber, wie Gehälter festgesetzt werden.»
Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, hält die Wahl des US-Trios für gelungen: «Die Forschung zeigt, dass der Staat sich nicht immer auf den Markt verlassen kann.» Speziell Card habe Einsichten geliefert, «dass der Mindestlohn zu mehr Motivation, weniger Jobwechseln, stärkeren Investitionen in die Beschäftigten und zu einer höheren Produktivität des Unternehmens führen kann – und somit alle profitieren.»
Statt nur einen bestimmten Arbeitsmarkt mit bestimmtem Personal zu betrachten, hoben Card und seine Kollegen auf den Vergleich ab. In New Jersey und Pennsylvania ließen sich dieselben «Ursachen» und «Wirkungen» studieren – aber stets bezogen aufeinander und so, dass nicht alle Akteure schon vorab in nur eine Gruppe eingeteilt wurden.
So kommt man dem Ideal des Zufallsexperiments wenigstens näher – und erhält neue Aussagen, die neue Forschungen anstoßen. Hans-Peter Klös, wissenschaftlicher Leiter des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, spricht von «äußerst einflussreichen Arbeiten zu den empirischen Effekten etwa von Migration, Bildung und Mindestlöhnen auf die Arbeitsmarktergebnisse wie Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Einkommen». Der Chef des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, nannte die Stockholmer Entscheidung ebenso eine «sehr gute Wahl».
Ein anderes Beispiel ist, wodurch genau Bildungschancen von Kindern mitgeprägt werden. Die Corona-Lockdowns bedeuteten für Abermillionen Schülerinnen und Schüler weltweit erhebliche Betreuungsdefizite. Ob ein Kind das Glück hatte, durch sein Geburtsdatum in eine erste Klasse vor dem Beginn der Pandemie eingeschult zu werden oder kurz darauf in einen «Corona-Jahrgang» fiel – auch solche Zuteilungen lassen sich mit der verfeinerten Methodik besser untersuchen.
«Das größte Problem ist, dass verschiedene Gruppen so ungleich betroffen sind», meinte Imbens zur Viruskrise. Der gebürtige Niederländer, den das Komitee mit seinem Anruf aus dem Bett holte, wies auf die praktische Bedeutung der Forschung hin. «Die USA waren immer gut darin, wissenschaftliche Informationen in den politischen Diskurs einzubringen.» In den vergangenen Jahren sei das aber «eine größere Herausforderung» gewesen. «Ich hoffe, dass die Politik auch auf die Arbeit achtet, die in der Ökonomie geleistet wird.»
In der digitalen Welt «ist es einfacher, an interessante Datensätze heranzukommen», sagte Angrist auf einer Pressekonferenz. Zugleich spielte er die Aussichten auf einen kompletten Wandel des Felds durch Technologie herunter: Entscheidend sei nicht die reine Datenmenge, sondern die Methode bei der Suche nach Zusammenhängen.
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