Sich gegen das Coronavirus impfen lassen, das konnten auch Kinder ab 12 Jahren schon seit Ende Mai. Doch eine allgemeine Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) gab es dafür nicht – bis jetzt.
Nun hat sich die Kommission nach wochenlanger Prüfung für die Impfung aller Kinder und Jugendlichen im Alter ab 12 Jahren ausgesprochen. Experten ordnen ein, was das für die Abwägung von Nutzen und Risiko der Impfung bedeutet.
Was jetzt neu ist
Nach der Zulassung des ersten Corona-Impfstoffs von Biontech/Pfizer für diese Altersgruppe im Mai hatte die Stiko nur eine Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige mit bestimmten Vorerkrankungen oder mit Kontakt zu Risikopatienten ausgesprochen. Auf eine generelle Empfehlung hatte sie aber vorerst verzichtet, unter anderem wegen zu weniger Daten, um bestimmte Nebenwirkungsrisiken abzuschätzen.
Doch inzwischen liegen wesentlich mehr Zahlen und Erfahrungen vor, wie Kinder ab 12 Jahren mit der Corona-Impfung zurechtkommen. Auf dieser Basis kommt die Stiko jetzt zu dem Schluss, dass die Vorteile der Impfung das Risiko sehr seltener Impfnebenwirkungen überwiegen.
Änderung ist keine Überraschung
«Die neue Bewertung kommt nicht überraschend und ist mit den nun vorliegenden Daten auch legitim und folgerichtig», sagt der auf Infektionskrankheiten spezialisierte Kinder- und Jugendmediziner Reinhard Berner vom Uniklinikum Dresden.
«Das heißt ja weiterhin nicht, dass man sich impfen lassen muss», sagt Berner. Doch wer sich impfen lassen möchte, hat jetzt noch ein weiteres Argument für die Abwägung – und könne darauf vertrauen, dass die Empfehlung der Stiko auf einer sehr gewissenhaften Prüfung der verfügbaren Daten beruhe, so der Experte.
Möglich war die Impfung für diese Altersgruppe schon seit Mai. Ungefähr jeder und jede vierte 12- bis 17-Jährige in Deutschland hat sich nach Berechnungen des Robert Koch-Instituts (RKI) auch schon mindestens einen Pieks mit Biontech/Pfizer oder mit dem inzwischen ebenfalls für sie zugelassenen Impfstoff von Moderna geholt.
Nutzen und Risiko für Gesundheit im Fokus
Was gilt es abzuwägen? Klar ist, dass 12- bis 17-Jährige, die sich mit dem Virus anstecken, sehr selten einen schweren Covid-19-Verlauf entwickeln. Aber es komme vor, stellt Berner klar – und dagegen schütze die Impfung.
Außerdem gebe es auch bei Kindern mögliche Spätfolgen der Infektion, PIMS zum Beispiel. Das pädiatrische Multisystem-Inflammationssyndrom erfordert eine Krankenhausbehandlung. Es kommt aber selten vor und ist nach bisherigem Stand immer behandelbar gewesen.
Long Covid, also Spätfolgen, die sich unter anderem in Kurzatmigkeit und chronischer Erschöpfung ausdrücken können, wurden auch schon bei Kindern beobachtet, auch wenn sich die Häufigkeit laut Berner noch nicht beziffern lässt.
Auf der anderen Seite steht als mögliche schwere Nebenwirkung der Corona-Impfung eine Herzmuskelentzündung, die eher bei Jungs beobachtet wurde. Wobei sie sehr selten vorkommt, laut bisherigen Daten bei ungefähr 1 von 16.000 Jungs und bei Mädchen seltener.
«Wenn ich all das in die Waagschale werfe», sagt Berner, «da würde ich persönlich sagen: Da ist der positive Effekt der Impfung deutlich höher zu bewerten, als eine mögliche gravierende Nebenwirkung.»
Potenzial für Konflikte in Familien und Schulen
Dazu kommen weitere Aspekte: Durch eine Impfung wird wieder mehr möglich und manches Treffen mit Freunden vielleicht unbeschwerter. Wenngleich Berner solche Argumente, die auch die Stiko durchklingen ließ, nicht «mag», wie er es ausdrückt, denn man «erlaube» ihnen nun etwas, was man ihnen vorher zu Unrecht verwehrt habe. Letztlich sollte bei der Abwägung für oder gegen die Impfung aus Berners Sicht in erster Linie der Nutzen für die Gesundheit des Kindes dem Risiko einer schweren Impfnebenwirkung gegenübergestellt werden.
Faktisch mache die Impfung die Teilhabe an sozialen Aktivitäten und dem Schulbetrieb aber natürlich leichter, sagt Berner. Das sei positiv. Sorgen bereitet ihm jedoch weiterhin, dass genau diese Erleichterung für geimpfte Kinder und Jugendliche viel Potenzial hat, Spannungen und Konflikte in Familien und Schulen zu tragen.
Etwas mehr Schutz für andere
Ebenfalls bedenkenswert: Zwar schützt die Impfung bei weitem nicht zu 100 Prozent vor einer Ansteckung – dennoch ist das Risiko, sich zu infizieren und das Virus dann möglicherweise an andere Menschen weiterzugeben, geringer als bei Ungeimpften.
Zusammengefasst lässt sich also sagen: Schwere Covid-19-Verläufe sind bei Kindern sehr selten, schwere Impfnebenwirkungen ebenfalls. Spätfolgen einer Covid-19-Erkrankung können auch Kinder treffen. Unter sozialen Aspekten macht die Impfung vielleicht wieder mehr möglich.
Viele sind gut informiert und entschieden
Der Kinder- und Jugendarzt Thomas Fischbach beobachtet in seiner Praxis in Solingen in Nordrhein-Westfalen, dass die meisten jungen Leute von sich aus kommen, allein oder mit den Eltern schon Vorüberlegungen getroffen haben und sich beraten lassen.
Auch wenn er bei der neuen Empfehlung der Stiko nach eigenen Worten voll mitgeht: «Aufschwatzen», sagt Fischbach, würde er die Impfung aber natürlich nicht. Ganz klar empfiehlt er sie jenen 12- bis 17-Jährigen, die einer Risikogruppe angehören. Ansonsten klärt er über den Nutzen und mögliche Risiken auf. «Die meisten kommen aber schon gut informiert und entschieden in die Praxis.»
Nach der Impfung erstmal keinen Sport
Zur Aufklärung gehört die Erwähnung der Herzmuskelentzündung als sehr seltene mögliche Nebenwirkung. «Ich empfehle insbesondere den Jungs nach der Impfung deshalb einen zehntägigen Sportverzicht, auch wenn das noch nicht verbindlich empfohlen wird», sagt Fischbach. Bei Symptomen wie Brustschmerz oder Atemproblemen in den Tagen nach der Impfung sollte man den Arzt aufsuchen.
Auch Reinhard Berner rät jungen Leuten nach der Impfung, für wenige Tage mit starker körperlicher Aktivität erstmal vorsichtig zu sein. Er nennt keine konkrete Tageszahl, sondern würde die Zeit des Sportverzichts vom «allgemeinen Zustand» abhängig machen.
Der Schulbesuch sei ohne Einschränkungen möglich – vorausgesetzt, es gibt keine Impfreaktionen. Wie Erwachsene können 12- bis 17-Jährige durchaus heftig mit Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen sowie allgemeinem Unwohlsein reagieren und damit nach der Impfung ein bis zwei Tage zu kämpfen haben, so Berner. «Das ist aber vorübergehend und verschwindet wieder. Das liegt an der Anregung des Immunsystems durch den Impfstoff.»
Wenn Eltern und Kind nicht einig sind
Was vorkommen kann: Das Kind möchte die Impfung, die Eltern aber nicht. Was dann ist, hängt vom Alter des Kindes ab. In der Regel geht man davon aus, dass es ab 14 Jahren bei normaler Entwicklung reif genug ist, um die Nutzen-Risiko-Abwägung bei bestimmten medizinischen Fragen selbst zu treffen. Ob diese sogenannte Einwilligungsfähigkeit vorliegt, entscheidet am Ende aber der Arzt oder die Ärztin.
Fischbach versucht, «immer einen Konsens aufzubauen». Im Zweifel würde er lieber nicht impfen, sagt der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Erst ab einem Alter von 16 Jahren würde er es auch tun, wenn die Eltern nicht mit im Boot sind.
Natürlich ist auch der umgekehrte Fall denkbar: Die Eltern sind für die Impfung, das Kind sträubt sich. Hier ist Zwang der falsche Weg. Die Eltern sollten sich die Meinung des Kindes anhören und sie respektieren. Am Ende entscheiden am besten Arzt, Kind und Eltern gemeinsam darüber.
Wo sich Kinder impfen lassen können
Impfen lassen können sich Kinder ab 12 Jahren und Jugendliche nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bei allen Ärztinnen und Ärzten, die Impfungen vornehmen. Dies schließe Hausärzte oder andere Fachärzte ein. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte beobachtet bei seinen Mitgliedern einen Anstieg bei der Nachfrage nach Terminen seit der neuen Stiko-Empfehlung.
Ob sich die Kinder und Teenager auch in Impfzentren den Pieks holen können, hängt laut KBV vom Vorgehen des jeweiligen Impfzentrums ab. Ob diese dafür spezielle Termine anbieten, könne man über die jeweilige Website checken. In einigen Bundesländern sind spezielle Impfaktionen geplant oder angelaufen, unter anderem in Impfzentren, aber zum Beispiel auch durch mobile Impfteams, die Schulen besuchen. Für Kinder bis 12 Jahre ist noch kein Impfstoff zugelassen.
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