Es ist ein ungelöstes Rätsel: In Deutschland erkranken immer mehr Kinder und Jugendliche an Diabetes mellitus Typ 1, also der Form von Diabetes, die nicht mit ungesunder Ernährung oder Bewegungsmangel in Verbindung steht.
Die Erkrankungsrate steigt laut Deutscher Diabetes Gesellschaft (DDG) jedes Jahr um drei bis vier Prozent, besonders kleine Kinder sind betroffen. «Woran das liegt, wissen wir nicht», sagt Andreas Neu, DDG-Präsident und Kommissarischer Ärztlicher Direktor der Abteilung Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie an der Kinderklinik Tübingen.
Diabetes nicht nur eine Frage des Lebensstils
Diabetes werde häufig mit höherem Lebensalter, Übergewicht und Bewegungsmangel assoziiert. Dass auch völlig gesunde, aktive Kinder und Jugendliche Diabetes bekommen können, sei vielen Menschen nicht klar. Plötzlich hört der Körper auf, das lebensnotwendige Insulin in ausreichender Menge zu produzieren, die jungen Patienten sind ihr Leben lang von Insulin-Spritzen oder -Pumpen abhängig. Laut DDG leben in Deutschland schätzungsweise 30.000 bis 32.000 Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 19 Jahren mit der Autoimmunerkrankung.
Auch die Berlinerin Anne Adam hätte nicht gedacht, dass ihr Sohn Oskar mit gerade einmal 14 Monaten betroffen sein könnte. «Nach einer langwierigen Ohrenentzündung trank er plötzlich bis zu drei Liter Wasser pro Tag», erinnert sich die Mutter. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt habe sie damit vertröstet, dass sich der Junge wahrscheinlich vom langen Heilungsprozess erhole. Doch als Oskar eines Tages 15 Stunden am Stück schlief, kaum noch zu wecken, apathisch und kraftlos war, fuhr sie mit ihm in eine Klinik. «Sehr schnell bekamen wir dort die Diagnose Diabetes Typ 1», erinnert sich die 38-Jährige, die ihre Erfahrungen auch auf Instagram teilt.
Gefährliche Folgen bei Späterkennung
«Die Symptome können auch bei anderen Krankheiten oder jahreszeitbedingt auftreten. Deshalb braucht es oft einige Zeit, bis Eltern bewusst wird, dass ihr Kind die Krankheit haben könnte», sagt Andreas Neu. Werden die Symptome zu spät erkannt, kann es zu einer gefährlichen Stoffwechselentgleisung, der diabetischen Ketoazidose kommen. Durch den Insulinmangel entstehen Ketonkörper – Stoffwechselprodukte, die das Blut übersäuern und zum Koma führen können. «Das ist potenziell lebensbedrohlich. Da zählen Stunden», so Neu.
Im Pandemiejahr 2020 sind mehr Eltern als üblich verspätet mit ihren Kindern zum Arzt gegangen – mit gefährlichen Folgen: Die Zahl der Ketoaizodosen hat sich laut einer Studie im Vergleich zu den Vorjahren signifikant erhöht. Der Gießener Kinder- und Jugendmediziner Clemens Kamrath und weitere Forscher haben zunächst die Daten von 532 Kindern und Jugendlichen, die zwischen Mitte März und Mitte Mai an Diabetes Typ 1 erkrankten, mit denen von 2018 und 2019 verglichen.
2020 lag der Anteil der Kinder, die zum Zeitpunkt der Diagnose eine Stoffwechselentgleisung hatten, in dem Zeitraum bei rund 45 Prozent, 2019 bei 25 Prozent und 2018 bei 24 Prozent. Über die Ursachen lasse sich nur mutmaßen. Ein möglicher Grund sei, dass Eltern aus Angst vor einer Corona-Infektion Arztpraxen und Krankenhäuser später aufsuchten als sie es vor der Pandemie getan hätten, so Kamrath.
Insulin-Gabe erschwert den Alltag
Oskar ist heute fast vier Jahre alt und bekommt seit nunmehr fast drei Jahren über eine Pumpe regelmäßig eine Grundmenge Insulin. Ein Sensor misst dafür den Blutzuckerspiegel. Zu den Mahlzeiten muss Oskar das Hormon je nach Essensmenge noch zusätzlich bekommen. Eltern und Kita-Erzieher müssen dann jeweils berechnen, wie viel Insulin Oskar braucht und über eine Fernbedienung die Menge für die Pumpe einstellen.
Der Alltag sei nun deutlich komplizierter. «Diabetes ist ein 24-Stunden-Job, sieben Tage die Woche. Wir müssen immer präsent und aufmerksam sein, auch nachts, wenn die Pumpe Alarm schlägt, weil die Blutzuckerwerte ungünstig sind», so Adam. In der Kita habe sie die Erzieher in Sachen Diabetes geschult und bleibe trotzdem immer ansprechbar. Den Kitaplatz hätte Oskar laut Kitaleiterin mit der Diagnose nicht bekommen, so die Mutter. «An die Schule mag ich noch gar nicht denken».
Einen Schulplatz zu bekommen sei nicht so problematisch wie mitunter einen Kitaplatz, berichtet Sandra Neumann, Leiterin der Berliner Selbsthilfegruppe «Diafüchse» und Mitarbeiterin der Deutschen Diabetes-Hilfe. «Staatliche Schulen müssen Kinder mit Diabetes aufnehmen, da Schulpflicht besteht», so Neumann. Doch auch in Schulen sei die Betreuung der Kinder durch Schulhelfer oder Integrationsfachkräfte nicht immer gesichert.
Zucker kann Organe angreifen
Unzureichend behandelt kann ein Typ-1-Diabetes schwere Folgeerkrankungen nach sich ziehen. «Es sind die gleichen, die man auch von der Volkskrankheit Diabetes Typ 2 kennt», so Neu. Der Zucker greife mit der Zeit Augen, Nieren, Gefäße und Nerven an. «Im schlimmsten Fall treten später Blindheit und Herzinfarkt auf, auch Amputationen und Dialyse können notwendig werden». Gerade wegen der langen Lebensdauer, die die jungen Patienten noch vor sich hätten, sei von Anfang an eine gute Behandlung nötig.
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