Im Alltag sind manche Situationen mitunter so was von fad. Zum Beispiel eine lange Zugfahrt durch eine karge Landschaft. Oder die endlose Teambesprechung im Job. Oder die wenig packende Rede bei einer Feierlichkeit, bei der sich kein Ende abzeichnet. In solchen und anderen Momenten kann es passieren, dass die Gedanken abschweifen – wir «tagträumen».
«Ein Tagtraum ist oft die Flucht vor Langeweile», sagt Fiona Waltraud Berle, Life-Coach für Persönlichkeitsentwicklung in München und Stuttgart. Vor dem geistigen Auge erscheinen dann Bilder mit Wohlfühlcharakter, der letzte Spaziergang im Wald etwa, der anstehende Urlaub in den Bergen oder die geplante Verabredung mit den Schulfreundinnen von früher. Die Hirnströme wechseln von Beta-Wellen (man ist konzentriert und geistig aktiv) auf Theta-Wellen (man ist tief entspannt).
Tagträume bewusst nutzen
Viele haben nach einem solchen Tagtraum oft ein schlechtes Gewissen – denn «verträumt» zu sein bedeutet womöglich, nicht mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Schon Kinder bekommen eine Rüge, wenn sie im Klassenzimmer gedankenverloren aus dem Fenster gucken, statt sich konzentriert dem Lehrstoff zu widmen. Dabei können Tagträume durchaus nützlich sein:
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und der Universität York in England fanden in einer Untersuchung heraus:
- Bestimmte Hirnstrukturen eines Menschen, die für unsere kognitive Kontrolle zuständig sind, arbeiten sogar effektiver zusammen, wenn man seinen Gedanken nachhängt, und zwar – wichtig – gezielt.
- Wer Tagträume gut kontrollieren, sie also unterdrücken könne, wenn es wichtig ist und ihnen freien Lauf lasse, wenn es möglich ist, könne den größtmöglichen Nutzen aus ihnen ziehen.
«Tagträume können durchaus Konzentration und Leistungsfähigkeit eines Menschen steigern», sagt die Psychotherapeutin Martina Holler aus dem hessischen Ulrichstein. Wenn wir mit höchster Konzentration an einer Sache arbeiten, brauchen wir mitunter Pausen, bei denen die Gedanken abschweifen. Bilder, die man sich in der Fantasie vor Augen führt, können dann zur Entspannung beitragen.
«Häufig ist es dann so, dass sich nach einem Tagtraum die Lösung für ein Problem, über das man lange gebrütet hat, mehr oder weniger automatisch einstellt» so Fiona Waltraud Berle. Denn mit dem Lockerlassen komme Raum für Kreativität.
Das Gehirn bahnt sich in diesem Entspannungsmodus neue Wege, aus denen sich die Lösung dann oft ergibt. Und: Für einen Tagtraum – egal, ob aus Langeweile und nach einer Phase höchster Konzentration – braucht es nicht viel Zeit. «Manchmal sind es nur wenige Sekunden», sagt Martina Holler.
«In Maßen sind Tagträume für jeden wohlverdiente kleine Pausen im Alltag, in denen man die Seele baumeln lässt», sagt Fiona Waltraud Berle. Dafür müsse man keine komplizierten Anweisungen befolgen. Ein paar Beispiele:
- Man setzt sich in Ruhe und bequem irgendwo hin. «Das kann zu Hause oder auch auf einer Parkbank sein», so Holler. Jetzt einfach in sich gehen, bewusst ein- und ausatmen und an etwas Schönes denken.
- In der Wohnung ans Fenster gehen und den Wolken nachsehen. «Und sich dabei so frei und unbeschwert wie eine Wolke fühlen.»
- Ins Grüne gucken und sich an der Natur erfreuen. «Dabei unbedingt das Smartphone beiseitelegen oder ausschalten.»
- Sich Bilder von der letzten schönen Reise in Erinnerung rufen. «Das können etwa Bilder von einem Strand sein», sagt Holler. Und dabei auch die Wärme nachempfinden, die man damals auf der Haut gespürt hat.
- Beim Autofahren über Land regen die notwendigen raschen Augenbewegungen unterschiedliche Hirnareale an, die unbewusst (!) das Tagträumen ermöglichen, sagt Berle. «Während das Kontrollzentrum des Gehirns aufmerksam bleibt, finden sich durch diesen assoziativen Denkprozess oft überraschende Ideen und Problemlösungen.»
Vorsicht, wenn’s zu viel wird!
Aber auch wenn das Abschweifen der Gedanken Entspannung und Kreativität fördern können – Tagträume können auch Nachteile haben.
Etwa, wenn man tagtäglich zu viel Zeit in Tagträume investiert. Das ist dann maladaptives Tagträumen (maladaptiv = XX). «Ein solcher Fall liegt vor, wenn jemand quasi nur noch in der Fantasie lebt, sich in Tagträume verliert und dabei seine täglichen Pflichten vernachlässigt», so Martina Holler. Betroffene können mitunter sehr lange Tagträume dann auch als belastend empfinden. Maladaptives Tagträumen kann eine Depression nach sich ziehen. Wer Anzeichen hierfür bei sich entdeckt, sollte psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.
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