Nach mehr als zwei Jahren im Dauerkrisenmodus wird es ein spezieller Corona-Test für Millionen Menschen quer durch die Republik: Wie fühlt es sich an, auch ohne Maske und Impfnachweis zum Shoppen, in die Kneipe oder zum Sport gehen zu können?
Inmitten noch hoher Ansteckungszahlen fallen ab diesem Sonntag fast bundesweit die meisten Alltagsauflagen weg. Schutz wird mehr zur Privatsache. Und so vereint Politik und Experten in die Pandemie-Eindämmung hineingingen, so umstritten ist nun die von der Bundesregierung durchgesetzte große Öffnung. Deutschland steht an einem Corona-Kipppunkt – geht das gut?
«Freedom day» – oder nicht?
Dazu, was die Zäsur bedeuten soll, setzen die Ampel-Koalitionäre jeweils eigene Akzente. Da ist die FDP, die hart auf größtmöglichen Lockerungen besteht. «Zwei Jahre nach Beginn des ersten Lockdowns kehren wir jetzt zur Normalität zurück», verkündete Fraktionschef Christian Dürr.
Und da sind Gesundheitsminister Karl Lauterbach und die Grünen, die kein Hehl daraus machen, dass ihnen ein dichteres Sicherheitsnetz eigentlich noch lieber wäre. «Von einem «Freedom Day» kann keine Rede sein – ganz im Gegenteil», mahnt der SPD-Minister unverdrossen. Und verteidigt zugleich die Kompromiss-Regelungen.
Die Lockerungen
Nach dem neuen bundesweiten Rahmen sind künftig nur wenige allgemeine Schutzvorgaben möglich: zu Masken in Kliniken, Pflegeheimen, Bussen, Bahnen und zu Tests beispielsweise in Schulen. In den Ländern braucht es dazu nur eine Verordnung. Überall Pflicht bleiben Masken in ICE, Intercity und beim Fliegen.
Und was ist mit all den Maskenvorgaben und Zugangsregeln wie 2G und 3G, die vielerorts lange galten? Sie erlaubt das Ampel-Gesetz lediglich noch in regionalen Hotspots mit kritischer Lage und nach Landtagsbeschluss. Vorerst machen davon nur Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg Gebrauch. Die anderen Länder erklärten die Vorgaben im Gesetz für nicht rechtssicher genug.
Ende der Eintracht
Zwischen Bund und Ländern knirschte es immer mal wieder – etwa wenn Vereinbarungen gleich wieder bröckelten und Verantwortung hin und her geschoben wurde. Den neuen Schutzrahmen setzte der Bund den Ländern aber ohne Beteiligung vor. Und die meisten Länder gehen nur unter Protest damit um, dass ihnen unpopuläre Entscheidungen jetzt direkt zugewiesen sind.
Lauterbach wirbt dennoch für die Hotspot-Regel, die im Kompromiss mit Justizminister Marco Buschmann «juristisch sauber gemacht» sei – und damit umsetzbar. Der FDP-Mann hob indes noch die «bewusst hohen Hürden» dafür hervor. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek stellte fest, dass Buschmann und die FDP jetzt auch die Verantwortung für die künftige Entwicklung übernehmen müssten.
Die fragile Lage
Ausgerechnet mit dem Mahner und Mediziner Lauterbach als Minister stehen weite Teile Deutschlands nun ohne bewährte Schutzauflagen da – mitten in einer Welle mit häufig mehr als 200.000 gemeldeten neuen Ansteckungen und oft mehr als 200 Toten täglich. Akzeptabel findet das auch Lauterbach erklärtermaßen nicht. Doch etwa eine bundesweite Maskenpflicht sei rechtlich nicht möglich, da nun keine bundesweite Überlastung des Gesundheitswesens drohe.
Kanzler Olaf Scholz (SPD) sprach von einer «neuen Phase», in der wie in Nachbarländern auf die meisten Schutzmaßnahmen verzichtet werde. Die Pandemie sei aber auch nicht vorbei. Jeder sei gut beraten, sich weiter an die gewohnten Vorkehrungen wie Abstand oder freiwilliges Maskentragen zu halten.
Schutz auch ohne Staat?
Ob zum Beispiel Maskenvorgaben nach Hausrecht weiter gelten, können Geschäfte, Theater und Restaurants jetzt selbst entscheiden. Viele Handelsketten verzichten vorerst darauf, appellierten aber an die Kunden, gern wie gewohnt mit Masken zu kommen.
Der Sozialverband VdK mahnte, viele Menschen mit chronischen Krankheiten und Ältere hätten nun Angst, sich wegen anhaltend hoher Infektionszahlen anzustecken. Lauterbach warnte, dass auch für Nicht-Geimpfte akute Gefahren bestehen: «Derjenige, der sich sagt, ich bin jetzt zwei Jahre durch die Pandemie gekommen und hab mich nie infiziert – der muss bedenken, dass das Risiko jetzt höher ist, als es je für ihn war.»
Die Aussichten
Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen betonte: «Selbst- und Fremdschutz sollten uns allen auch im Frühling wichtig sein.» Mehr Freiheit sollte im Umkehrschluss nicht weniger Vorsicht heißen. Er rechne damit, dass die Eindämmung der Omikron-Welle erst nach Ostern gelingen werde.
Der Virologe Christian Drosten sagte im vorerst letzten regulären NDR-Corona-Podcast, Immungeschwächte und überhaupt alle Risikopatienten sollten «unbedingt für sich selber weiter Maske tragen, wenn es schon nicht alle anderen tun». Für den Sommer mit wohl niedrigen Inzidenzen riet er zu «asiatischer Höflichkeit» – also Maskentragen als Teil guter Umgangsformen bei Begegnungen.
Nach Einschätzung des Robert Koch-Instituts (RKI) könnte die derzeitige Infektionswelle ihren Höhepunkt erreicht haben.
Impfungen – Problem und Lösung?
Die große Frage ist: Was passiert im Herbst? Als kritisch gilt vor allem die im Vergleich zu anderen Ländern große Impflücke. Aktuell steht die Impfkampagne wieder nahezu still. In der Risikogruppe der 24 Millionen Menschen ab 60 Jahren haben rund elf Prozent keinen Grundschutz mit zwei Impfungen.
Mit Spannung wird die Entscheidung über eine allgemeine Impfpflicht erwartet, für die Lauterbach und Scholz werben. Vor der Abstimmung ohne Fraktionsvorgaben im Bundestag am kommenden Donnerstag wurde zwischen Befürwortern einer Pflicht ab 18 einerseits und Anhängern von Stufenmodellen bis zu einer Pflicht ab 50 andererseits verhandelt – Ausgang offen.
Spätestens im Herbst könnte es auch wieder Streit über Corona-Auflagen geben. Denn das geänderte Infektionsschutzgesetz ist bis 23. September befristet.
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