22. November 2024

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Was Experten zur Corona-Viertimpfung ab 60 Jahren sagen

Seit Mitte Februar rät die Stiko Menschen ab 70, Bewohnern von Pflegeeinrichtungen sowie Menschen mit Immunschwäche ab fünf Jahren zu einer zweiten Booster-Impfung. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Daniel Bockwoldt/dpa/Symbolbild)

Eine vierte Corona-Impfung schon für ab 60-Jährige:
Dafür wirbt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) seit
einigen Tagen und beruft sich auf neue israelische Daten. Auch auf
EU-Ebene dringt er dazu auf eine entsprechende gemeinsame Linie. Die
in Deutschland für das Thema zuständige Ständige Impfkommission
(Stiko) ist bisher zurückhaltend. Dazu Fragen und Antworten.

Wie sehen die Empfehlungen zur Viertimpfung bisher hierzulande aus?

Seit Mitte Februar rät die Stiko angesichts der Omikron-Welle
bestimmten Gruppen dazu: Menschen ab 70, Bewohnern von
Pflegeeinrichtungen sowie Menschen mit Immunschwäche ab fünf Jahren.
Wegen der Ausbruchsgefahr sind auch Beschäftigte von Einrichtungen
wie Kliniken und Pflegeheimen einbezogen. Bei gesundheitlicher
Gefährdung rät die Stiko, die zweite Auffrischung frühestens drei
Monate nach der ersten vorzunehmen. Bei Gesundheits- und
Pflegepersonal soll es mindestens ein halbes Jahr Abstand sein.

Wie viele Menschen sind der Empfehlung bisher nachgekommen?

Der Verlauf könne nicht zufriedenstellen, sagte Lauterbach kürzlich.
Allein von den 13,5 Millionen Menschen über 70 Jahren sowie von den
Menschen mit Immundefekt seien bisher weniger als zehn Prozent ein
viertes Mal geimpft. Zu den denkbaren Gründen zählt, dass ein an
Omikron angepasstes Vakzin immer noch fehlt. Genug von bisherigen
Impfstoffen scheint vorhanden: Lauterbach sagte kürzlich, wegen
stockender Abnahme durch einkommensschwächere Länder sei zu
befürchten, dass in Europa Impfstoff vernichtet werden muss.

Welche Erfahrungen hat Israel mit dem zweiten Booster gemacht?

Daten zu mehr als 560.000 Menschen zwischen 60 und 100 Jahren, die
teils nur dreimal, teils bereits ein viertes Mal geimpft wurden, sind
vor einigen Tagen als Preprint erschienen – also noch ohne die bei
Studien übliche externe Begutachtung. Ergebnis: Die Sterblichkeit
durch Covid-19 sei in der vierfach geimpften Gruppe um 78 Prozent
verringert gewesen, verglichen mit der Gruppe der nur Geboosterten.
Darauf berief sich Lauterbach.

Was steckt dahinter?

Ein genauerer Blick in die Daten zeigt: Die Unterschiede zwischen den
verglichenen zwei Gruppen aus drei- beziehungsweise vierfach
Geimpften sind minimal, wie der Vizepräsident der Deutschen
Gesellschaft für Immunologie, Reinhold Förster, sagte: «Beide Gruppen
haben bei Omikron ein sehr geringes Sterberisiko durch Covid-19.» Die
Angaben zur verringerten Sterblichkeit basierten daher auf relativ
kleinen absoluten Zahlen. Bei den 60- bis 69-Jährigen zum Beispiel
starben laut Preprint fünf der rund 111.800 vierfach Geimpften und 32
der rund 123.800 dreifach Geimpften.

Welche Tücken haben die israelischen Daten noch?

«Es ist ja die Frage, inwieweit die beiden Gruppen vergleichbar sind.
Manche dreifach geimpfte Vorerkrankte dürften sich nicht zur
Viertimpfung aufgerafft haben, was die Unterschiede bei der
Sterblichkeit zum Teil erklärten könnte», sagte Förster. Darüber
hinaus weist das Autorenteam selbst darauf hin, dass sie nur auf eine
relativ kurze Zeitspanne von 40 Tagen blicken. Bei der erfassten
Todesursache Covid-19 in Krankenhäusern könnten zudem auch Fälle
enthalten sei, in denen ein positiver Test ein Nebenbefund ist.

Wie sieht die Stiko den Lauterbach-Vorstoß?

Stiko-Chef Thomas Mertens sagte, dass das Gremium ohnehin ständig
neue Daten sichte und die Notwendigkeit von Aktualisierungen prüfe.
Die Frage der vierten Dosis lasse sich nicht ausschließlich am Alter
der Impflinge festmachen. Vielmehr spielten auch Vorerkrankungen und
Überlegungen zum Impfschutz auf längere Sicht eine Rolle. «Anhand
bisher verfügbarer Daten kann man aber sagen, dass der zweite Booster
offenbar nur bedingt vor Infektion schützt, aber schwere Verläufe in
Risikogruppen reduzieren kann.»

Die aktuelle 70-Jahre-Schwelle sei auch durch eine Analyse deutscher
Daten zustande gekommen: mit dem Ergebnis, dass das Gros der schweren
Erkrankungen und Todesfälle eben in diesem Alter auftrete. Mertens
sprach darüber hinaus von zu benennenden Prioritäten: «Ein
Hauptproblem bei 60- bis 69-Jährigen auf Intensivstationen besteht im
Augenblick in Patienten ohne erste Booster-Impfung, noch schlechterem
oder völlig fehlendem Impfschutz.»

Wie bewerten andere Experten die bisherigen Erkenntnisse?

Mehrere angefragte Fachleute reagierten zurückhaltend und werten die
bisherige Datenlage als dünn. «Eigentlich müsste man abwarten, ob
sich die Beobachtung auch in anderen Ländern bestätigt», sagte die
Infektiologin Jana Schroeder. «Auch Daten zur Sicherheit wurden in
der israelischen Studie nicht erhoben. Warum sollten wir bei Senioren
weniger vorsichtig sein als bei Kindern? Schließlich ist die
Corona-Impfung für Fünf- bis Elfjährige in Deutschland immer noch
nicht generell empfohlen, trotz mehr als acht Millionen geimpfter
Kinder in den USA.»

Bedenken gibt es auch, da völlig unklar ist, welche Virusvarianten in
einigen Monaten vorherrschen, welche Impfstoffe es dann gibt und was
das wiederum für die Impfempfehlungen zum Winter hin bedeutet.

Von Gisela Gross, dpa